Kein Hochgebirge
Ich sehe eine echte Schwierigkeit in unserem Dialog: Sie haben Ihre Vorentscheidung bereits getroffen. Sie gehen wie selbstverständlich von der Prämisse aus, daß Steiner an Martinus zu messen sei, im Widerspruchsfalle also irrelevant sei:
Hätte ihm das Martinus-System damals schon zur Verfügung gestanden, hätte er...
Nun gilt zwar auch für die Geisteswissenschaft, daß - im Normalfalle - der Eine auf den Anderen aufbaut und seine Vorgänger eventuell berichtigt. Aber hier trifft das nicht zu, denn Martinus hat sich um bisherige Erkenntnisse gar nicht bekümmert. Woher also nehmen Sie die Überzeugung, Steiner hätte sich an Martinus orientiert (eigentlich: er würde sich im Nachhinein korrigieren), wenn er Martinus gelesen hätte?
Weiterhin:
Rudolf Steiner ordnete seine übersinnlichen Wahrnehmungen nach der überlieferten christlichen Hierarchienlehre und den überlieferten jüdisch-christlichen Traditionen.
Damit leugnen Sie implizit, daß Steiner diesbezüglich eigene Erkenntnisfähigkeiten gehabt habe. Richtig ist, daß Steiner anfangs, z.B. während der Abfassung der Aufsätze zur "Akasha-Chronik", vereinzelt Namen, Begriffe und sogar Vorstellungen von Vorgängern übernommen hat. So hat er hinsichtlich der atlantischen Rassen die Bezeichnungen übernommen, die von W. Scott-Elliot geprägt worden waren. Aber er hat dies gekennzeichnet, und vor Allem: er ist über seine Vorgänger hinausgegangen, indem er die inneren Verhältnisse beschrieb und dadurch zu völlig neuen Ergebnissen kam.
Eine echte wissenschaftliche Auseinandersetzung (ebenso wie wissenschaftliche Forschung überhaupt) hat zur Voraussetzung die Ergebnisoffenheit. Die haben Sie insoweit aufgegeben. Ich weiß nicht, wie wir unter dieser Voraussetzung ernsthaft diskutieren können.
Sie machen es in etwa so wie die "Steinerianer" es tun: Richtig ist etwas, weil der Meister es so gesagt hat. Zusätzlich operieren Sie mit dem Plausibilitäts-"Beweis". Aber der führt natürlich nur so weit, wie die eigenen Erkenntnisse reichen.
Lohnt es sich dann noch, daß ich auf den Rest eingehe? Ich versuche es, so gut ich kann.
Für die Naturgesetze gibt es meines Wissens gegenwärtig gar keine Erklärung außer der, dass sie immer schon da waren oder der, dass Gott sie erschaffen hat. Martinus fand eine - wie ich finde - sehr einfache und schlüssig Erklärung,
Zur Frage der Naturgesetze hat Steiner sich an vielen Stellen und sehr ausführlich geäußert. Daher findet sich bei ihm keine "sehr einfache und schlüssige Erklärung". Das ist eine Frage des geistigen Niveaus. Was Martinus dazu beiträgt, ist schlechthin trivial. Ich sage nicht, daß es falsch sei. Ich sage nur, daß der geisteswissenschaftlich Interessierte sich damit nicht begnügen kann und - glücklicherweise - auch nicht begnügen muß.
Martinus vertrat die Auffassung, dass es keine objektive Wahrnehmung geben kann, weil jede Wahrnehmung auf dem Perspektivprinzip beruht. Um überhaupt wahrnehmen zu können, müssen wir eine bestimmte Perspektive einnehmen und damit alles ausschließen, was aus unserer Perspektive nicht sichtbar ist. Von der Wirklichkeit lassen sich nur Ausschnitte wahrnehmen.
Auch das ist in der Wissenschaft - nicht nur in der "Geistes"wissenschaft - eine Trivialität. Es sind zur Relativität und Erkenntnisperspektive sehr viele und sehr differenzierte Modelle entwickelt worden. Sie bilden große Teile in der Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsphilosophie.
Ich halte Martius für einen Menschen, wie sie nur höchst selten geboren werden.
Dazu möchte ich folgenden Vergleich ziehen: In gewisser Hinsicht verhält sich Martinus zu Steiner wie der Islam zum Christentum. Es heißt, der Islam sei eine Religion mit Ansprüchen, die jeder normale Mensch erfüllen kann; dagegen sei das Christentum eine Religion, deren Ansprüche niemand restlos erfüllen kann. Der Islam sei insofern ein Monotheismus "light", ein Zugeständnis an die Vielen, nachdem sich gezeigt hat, daß die meisten Menschen am Christentum gescheitert seien und im Maße, als sie es ernstnehmen, es nur verzerrt oder kompromißhaft leben können.
In diesem Sinne ist auch die Martinus-Kosmologie eine "Light-Version" der Steinerschen Kosmologie. Man braucht nicht hoch zu klettern, sondern man gelangt schon mit den ersten Schritten auf das Hochplateau.
Was Martinus besonders macht, das ist eine in der Tat ungewöhnliche Fähigkeit, komplexe Dinge unterkomplex darzustellen. Dies gilt insbesondere für seine "Symbole" (eigentlich: Grafiken). Er schrieb sozusagen für das Volk. Stilistisch ist er dem Steiner weit überlegen, und das werte ich an Martinus wirklich positiv. Das Wenige, was an Martinus' Gedankenwelt originell ist (sofern es das wirklich ist), gibt er in perfekter Darstellung. Die ganze Welt hat er reduziert auf ein intellektuell leicht faßliches Modell. Gerade höher gebildete Menschen scheitern, wenn sie das versuchen.
Wenn Sie sagen: Das reicht mir, dann ist das in Ordnung. Aber zu sagen: Wenn der Steiner das bereits gekannt hätte, dann hätte er..., das ist für mich inakzeptabel. Auf Argumente der Plausibilität kann ich mich da nicht mehr einlassen. Vielleicht gibt es andere Gesichtspunkte, worüber wir uns austauschen könnten. Dazu wäre ich weiterhin bereit.
Thomas Lentze
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