Martinus im Vergleich zu Valentin Tomberg

Kosmogonie @, Sonntag, 28. Juni 2020, 16:12 (vor 1562 Tagen) @ Kosmogonie

Martinus Thomsen und Valentin Tomberg - ich habe den bürgerlichen Zunamen des Ersteren nur des Gleichklangs wegen angefügt - können beide als Kandidaten für den von Steiner angekündigten Boddhisattva gelten. Denn beide erfüllten die von Steiner aufgeführten Bedingungen vollständig. Bemerkenswert ist auch, daß beide von Marie Steiner mit ganz ähnlichen Worten abgewiesen wurden. Zu oder über Tomberg sagte sie (sinngemäß): "Mit dem Werk von Rudolf Steiner haben wir für die nächsten tausend Jahre genug. Wir brauchen keinen neuen Eingeweihten."

Konnte es zur Wirkenszeit der beiden Genannten nur einen Boddhisattva geben? Dann muß man sich für einen von den Beiden entscheiden. Oder hat sich der Boddhisattva sozusagen aufgeteilt in zwei, welche entgegengesetzte Standpunkte einnehmen, die sich aber ergänzen? Denn eines ist, für mich jedenfalls, klar: gegensätzlicher können spirituelle Standpunkte und die Stimmungen, die sie vermitteln, kaum sein.

Es handelt sich um einen Ur-Gegensatz, den Tomberg in seinem Spätwerk "Die Großen Arcana des Tarot" anhand der Tarotkarte "Das Schicksalsrad" erläutert hat, genauer gesagt im Zehnten Brief, überschrieben: Das Schicksalsrad - Das Arcanaum der gefallenen Natur.

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Diese Karte zeigt einen absteigenden Affen und einen aufsteigenden Hund; darüber ein Wesen, in welchem sich Tier und Mensch verbinden, sei es zu Anfang oder zu Ende eines Involutions- und Evolutionsweges. Der Affe war einmal Mensch; der Hund strebt zum Menschen. Dazu Tomberg:

In der okkultistischen Literatur im allgemeinen ist die Lehre vom Kreis der Involution und der Evolution ein Gemeinplatz; dies wird aber anders, sobald man die Involution als Sündenfall versteht und die Evolution als Heil. Ein himmelweiter Unterschied besteht zwischen den orientalisierenden Lehren über den gleichsam automatischen "Prozeß" der Involution und der Evolution einerseits und der hermetischen biblischen und christlichen Lehre über den Sündenfall und das Heil andererseits. Denn die ersteren sehen im Kreislauf Involution-Evolution nur einen rein natürlichen Prozeß, ähnlich dem Atmungsvorgang des lebenden tierischen und menschlichen Organismus. Die hermetische, biblische und christliche Tradition dagegen sieht darin eine kosmische Tragödie und ein kosmisches Drama, voll der höchsten Gefahren und Risiken, die in den traditionellen Begriffen "Verdammnis" und "Heil" enthalten sind.

Diesen Gegensatz veranschaulicht Tomberg wie folgt:

Täuschen sich die mit Fahrkarten versehenen Passagiere auf einem Schiff, wenn sie das Schiff mit seiner Mannschaft als Transportmittel betrachten, das sie nach vorherbestimmtem Kurs an den Bestimmungsort bringt? Für die Reisenden ist die Reise auf dem Meer ein "ganz natürlicher Vorgang", eine Sache, die automatisch abläuft, vorausgesetzt, daß die Fahrkarte bezahlt ist.

Können aber der Kapitän, die Offiziere und die anderen Mitglieder der Besatzung die Reise auf dem Meer auf gleiche Weise wie die Passagiere betrachten? Augenscheinlich nicht. Für sie, die für die Reise verantwortlich sind, bedeutet die Fahrt Arbeit, Wache halten, Manövrieren, Orientierung, um Kurs zu halten, und die Last der Verantwortung für alles tragen. Für die Besatzung ist die Reise keineswegs eine Art "natürlicher Vorgang", etwas, das von selbst abläuft. Im Gegenteil, für sie ist sie Anstrengung, Kampf und Gefahr.

Ebenso ist es mit der Evolution. Man sieht sie als "natürlichen Vorgang", wenn man sie mit dem Auge des Passagieres betrachtet, während man sie als "Tragödie und Drama" sieht, wenn man sie mit dem Auge eines Besatzungsmitgliedes betrachtet.

[...]

Die Exoterik entspricht der Mentalität und der Psychologie des Passagiers; die Esoterik derjenigen des Mitglieds der Besatzung.

[...]

Die exoterisch verstandene Evolution ist ein kosmischer Prozeß - ob biologisch oder geistig ist unwichtig -, während sie esoterisch verstanden ein Drama oder ein "Mysterium" ist im Sinne der Antike. Und nur für die so verstandene Evolution werden die Ideen von Sündenfall, Verdammnis, Erlösung und Heil nicht nur anwendbar, sondern sogar notwendig.

Demnach wäre Martinus klar ein Exoteriker. Ich kann hier natürlich nur wenige Abschnitte zitieren; das ganze Kapitel geht dann noch sehr in die Tiefe und ins Detail. Auf jeden Fall macht Martinus' Weltbild auf mich stark den den Eindruck einer "orientalisierenden Lehre". Die Nähe zum Buddhismus hat ja auch Uwe Todt mehrfach betont und erläutert.

Im selben Kapitel bzw. Brief hat Tomberg u.A. auch noch am Beispiel des philosophischen Optimismus und Pessimismus erläutert.

Vom Standpunkt des reinen Denkens, der derjenige von Leibniz ist, zeigt die Welt als Ganzes ohne Zweifel eine vollkommene Ordnung des Gleichgewichts, des harmonischen Funktionierens ihrer wesentliche Teile, und so ist das Ganze der Welt - was auch immer in ihren Falten und dunklen Ecken geschehen mag - in großen Zügen [...] die Harmonie selbst.

Vom Standpnkt des reinen Willens, den Schopenhauer einnimmt, bestätigt die Erfahrung jedes individuellen Wesens in der Welt die von Gautama Buddha gestellte Weltdiagnose [...].

Was kann man nun vom Standpunkt des Herzens und der jüdisch-christlichen Tradition über die Welt sagen? - Das Herz sagt uns: Die Welt, dieses Wunderwerk an Weisheit, Schönheit und Güte, leidet. Sie ist krank.

Ich vermute im Buddhismus (den ich freilich nicht gut kenne) eine Art luziferischer Fluchtbewegung. Man kommt, wenn es gut läuft, zu einer Erleuchtung. Man erlebt sich außerhalb von Raum und Zeit, der Erdenschwere enthoben, und dieses Erlebnis ist beglückend. Aber ich frage mich jedesmal: Was haben mir diese Leute voraus, von ihrer Erleuchtung einmal abgesehen? Sehen sie Dinge, die ich nicht sehe? Haben sie höhere Erkenntnisse über die "erschaffene" geistige Welt, z.B. über Elementarwesen und hierarchische Wesen? Tragen sie dazu bei, die Not von Tieren, Menschen und nichtmenschlichen Wesen zu lindern?

Mir scheint, daß ich alle diese Fragen verneinen muß. Allerdings kann ich nicht ausschließen, daß diese Erleuchteten nicht doch einen Evolutionsstand verkörpern, der sie irgendwann zu höheren Erkenntnissen und zu wirksamen Liebestaten befähigen wird. Vielleicht sind sie Neugeborene, von denen man sagen kann, daß sie erst heranreifen müssen, und daß die Geburt als solche schon ein glückliches Ereignis ist. - Anderseits gibt es sehr wertvolle Menschen, die keinerlei Erleuchtung gehabt zu haben scheinen.

Augenblicklich komme ich zu keiner abschließenden Beurteilung.


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