Steiners Verhältnis zu Husserl - ein Lehrbeispiel skandalöser Befangenheit

Kosmogonie @, Freitag, 24. Juni 2016, 21:54 (vor 3102 Tagen) @ Bernhard
bearbeitet von Kosmogonie, Freitag, 24. Juni 2016, 21:59

Lieber Bernhard!

Ich muß mich fast schon dafür entschuldigen, daß ich soviel Ungünstiges über Steiner vortrage. Aber es ist eben in diesem Falle sehr viel leichter, ihm Fehler nachzuweisen, als Wahrheiten zu bestätigen. Letztere sind ja, aus unserer Sicht, fast ausschließlich hypothetisch. Dann gibt es eben auch nichts zu bestätigen. Man kann es freilich interessant finden.

Anscheinend nimmst du Anstoß an diesen Sätzen von mir:

Zuletzt tritt zwangsläufig die Frage immer mehr in den Vordergrund: Kann ein so vorurteilsbeladener Mensch überhaupt "höhere" Erkenntnisse gewinnen? Und falls ja, wie zuverlässig sind die diesbezüglichen "Mitteilungen"?

Mit deiner Entgegnung hast du freilich recht. Du hast gut begründet, weshalb Steiner in dem, was die Höhe betrifft, die Dinge dort wahrscheinlich viel klarer gesehen hat als die Dinge "hier unten". Ich habe ja selbst gelegentlich gesagt, wie ich dieses Verhältnis sehe, allerdings habe ich es anders begründet. Nämlich: Wenn das höhere Ich geboren wird, dann - ich halte mich jetzt direkt an Steiners Erläuterung - werden dem niederen Ich Kräfte entzogen, die ihm bis dahin Festigkeit verliehen haben. (Das ist wohl ähnlich wie bei Müttern, denen angeblich jedes Kind einen Zahn kostet). Darum betonte Steiner immer die Notwendigkeit, das niedere Ich durch Denk-, Willens- usw. Übungen zu festigen.

Aber vielleicht kann ein vollständiger Ausgleich nicht immer stattfinden, oder wird auch nicht angestrebt. Was dann folgt, hat Steiner in GA 145-1 ja gut beschrieben. Es muß also nicht immer gleich schlimm kommen, doch auffällig ist es unter Umständen schon. So eben auch bei Steiner.

Bedenke bitte auch: Ich messe Steiner an seinen eigenen Ansprüchen. Wenn ein philosophisch nicht allzu Begabter ein Buch schreibt mit dem Titel "Die Philosophie der Freiheit" - wohlgemerkt, "die" Philosophie, nicht "meine" Philosophie der Freiheit (oder Befreiung), was zutreffend gewesen wäre -, dann macht er sich freilich lächerlich.

Das eigentliche Problem sehe ich allerdings bei den Steinerianern. Wie Hartmut Traub richtig bemerkte, kennen die meisten von ihnen die Ideen- und Geistes-Geschichte nur aus dem, was Steiner darüber gesagt hat. Wozu noch Kant lesen, wenn Steiner "klarstellte", daß der ein Schwachkopf gewesen sei? Wozu über die Relativitätstheorie nachdenken, wenn Steiner bereits "festgestellt" hat, daß Einstein ein Neurastheniker gewesen sei?

Leider ist es gegenwärtig so, daß diejenigen, die Steiner auf den Gebieten ernstzunehmen beginnen, wo man ihn tatsächlich ernstnehmen darf und soll (wenn vielleicht auch mit katastrophalem Ergebnis), ihn nicht in seinen übersinnlichen Forschungen ernstnehmen. Ich versuche beides, und darum gehen auch meine Untersuchungen, die ich in der "Kosmogonie" gebe, ständig weiter. Vielleicht fallen dir die kleinen, aber stetigen Veränderungen dort nicht so auf, aber sie finden statt.

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Nebenbei habe ich auch die Forum-Funktionen erweitert. Du kannst jetzt in drei Farben zitieren. Das zu bewerkstelligen war auch eine ziemliche Arbeit!

Beste Grüße!
Thomas

P.S.:

Ich lese seit gestern Kants "Kritik der reinen Vernunft". Hätte ich damit fortgefahren, Steiner so ernstzunehmen wie bisher, dann hätte ich die Lektüre dieses hoch bedeutenden Buches weiterhin aufgeschoben.


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