Ein Schlußwort (?) zu diesem Thread

Kosmogonie @, Sonntag, 10. Juli 2016, 11:47 (vor 3072 Tagen) @ Bernhard
bearbeitet von Kosmogonie, Sonntag, 10. Juli 2016, 19:29

Da aber - um im Bilde zu bleiben - der Fehlsichtige weder weiß, dass bzw. ob er fehlsichtig ist, noch, aus welcher Perspektive der gesund Sehende die Dinge betrachtet, kann er notwendig den faktischen Wert der Beschreibungen des letzteren nicht beurteilen.:-|

Mithin sollte der Invalide sich hüten, um sich nicht selber des Fehlurteils und Vorverurteilens verdächtig zu machen

Mein lieber Bernhard,

du sprichst ganz unnötigerweise in Anspielungen. Wer ist denn der Invalide oder Fehlsichtige? Den Steiner meinst du damit nicht. Dich selbst meinst du damit auch nicht, denn als Fehlsichtiger könntest du gar kein Urteil fällen. Also bleibe ich als Kandidat für den Invaliden bzw. Fehlsichtigen. Und ebenso natürlich alle anderen Menschen, die sich ihres eigenen Verstandes bedienen und mit Steiner nicht übereinstimmen. Bekanntlich lautet eine der Definitionen, für die Kant zurecht berühmt geworden ist, wie folgt:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Ähnlich hat sich auch Steiner häufig geäußert, etwa ingestalt der Nebenübung der Unbefangenheit. Steiner ist sich, trotz aller Ablehnung, mit Kant in vielen Dingen erstaunlich einig. Nur will er das nicht zugeben. Seine große Schwäche besteht darin, Anweisungen zu geben, an die er sich selbst nicht hält.

Für den (Noch-)Nicht-Hellsichtigen ist ungeklärt, von welcher Warte aus Steiner die Philosophen betrachtet.

Doch, das ist geklärt, jedenfalls in vorliegendem Falle. Wie Steiner selbst zugibt, datiert sein Kant-Erlebnis aus der Schulzeit:

Aus «Reclams Universal-bibliothek» hatte ich mir Kants «Kritik der reinen Vernunft» besorgt; ich trennte es auseinander, und das habe ich dann hineingeheftet in mein Schulbuch, das ich während des Unterrichts vor mir liegen hatte, und las nun Kant, während vom Lehrer Geschichte gelehrt wurde.

Er hat also als Spätpubertierender (d.h. als ein naturgemäß Aufmüpfiger) einen schwierigen Philosophen in einem für die Lektüre ungünstigen Milieu gelesen, und aus dieser Haltung, nämlich der des Spätpubertierenden, schreibt er nicht nur als Doktorand - sein Doktorvater mußte ihn auffordern, gewisse Stellen noch einmal gründlich nachzulesen -, sondern noch als alter Mensch. Zum Unglück für die anthroposophische Bewegung hat ihn später niemand mehr aufgefordert, eines von Kants Werken nun einmal nicht nur stellenweise, sondern vollständig, und dazu mit der Positivität des gereiften Mannes zu lesen.

Ob Steiner hellsichtig war, kann keiner von uns beurteilen, aber aus meiner positiven Einstellung heraus (Nebenübung!) billige ich ihm zu, wahrscheinlich hellsichtig gewesen zu sein. Aber es ist ganz unsinnig, jemandem eine solche Fähigkeit zugute zu halten, wenn es um Dinge geht, bei denen es gar nicht auf Hellsichtigkeit ankommt, so wie im vorliegenden Falle.

Einen Philosophen wie Kant kann man nur philosophisch beurteilen. Er ist an seinen eigenen Ansprüchen zu messen, nicht an fremden. Mit Hellsicht kann man hier gar nichts ausrichten, denn um zu wissen, was Kant geschrieben hat, muß man nicht hellsichtig sein. Man kann ihn mittels Hellsichtigkeit auch nicht widerlegen. Was man hier vielmehr braucht, ist allein Logik und Intellekt, und zwar in hohem Grade.

Ich hoffe, es ist dir klar, daß Hellsichtigkeit notwendig andere Erkenntnisgegenstände hat als Philosophie und Logik. Hellsichtigkeit ist keine "bessere Logik", und sie kann auch keine Logik ersetzen. Hätte Steiner jedoch über Kants frühere Inkarnationen gesprochen (im Falle Eduard von Hartmanns hat er das tatsächlich getan), dann würde ich seine Aussagen nicht infrage stellen, schon deshalb nicht, weil mir klar ist, daß ich ihn auf diesem Gebiet nicht würde widerlegen können. (Einen Wahnsinnigen würde ich ebenfalls nicht widerlegen können, und zwar aus dem gleichen Grunde: weil ich außerhalb von dessem Wahrnehmungsfeld stehe.)

Im Übrigen, d.h., auch wenn man Kant nicht gelesen hat, sollte einem allein schon das moralische Empfinden sagen, daß Steiner sich in seiner Kant-Verurteilung grob im Ton vergriffen hat. Und das auch noch an einem sensiblen Ort, denn er sprach zu enthusiastischen, sehr aufnahme- und zustimmungswilligen Männern. Da hat man es leicht, denn man riskiert keinen Spott, aber man trägt Verantwortung. Wie steht es mit der viel beschworenen "freilassenden Einstellung"?

Ich meine, wir sollten das Thema jetzt nicht weiter behandeln, zumindest nicht an diesem Ort. Der Thread ist im Wesentlichen abgeschlossen. Wenn nötig, kann ja in einem gesonderten Thread erörtert werden, was Kant wirklich gesagt hat. Hier aber ging es um Husserl.

Gruß
Thomas


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