Vergleich zweier Passagen in Texten von Frege und Steiner

Kosmogonie @, Freitag, 08. Juli 2016, 22:05 (vor 2940 Tagen) @ Rembert
bearbeitet von Kosmogonie, Freitag, 08. Juli 2016, 22:10

Vergleichen sie zum Beispiel die Passage anfangend mit: „Es ist wundersam, wie bei solchen Erwägungen die Gegensätzen ineinander umschlagen“, mit dasjenige, das Steiner schreibt in Der Philosophie der Freiheit (ab Seite 75, online pdf)

Frege:

Es ist wundersam, wie bei solchen Erwägungen die Gegensätze ineinander umschlagen. Da ist z. B. ein Sinnesphysiologe. Wie es sich für einen wissenschaftlichen Naturforscher ziemt, ist er zunächst weit davon entfernt, die Dinge, die zu sehen und zu tasten er überzeugt ist, für seine Vorstellungen zu halten. Im Gegenteil glaubt er in den Sinneseindrücken die sichersten Zeugnisse von Dingen zu haben, die ganz unabhängig von seinem Fühlen, Vorstellen, Denken bestehen, die sein Bewußtsein nicht nötig haben. Nervenfasern, Ganglienzellen erkennt er so wenig als Inhalt seines Bewußtseins an, daß er eher geneigt ist, umgekehrt sein Bewußtsein als abhängig von Nervenfasern und Ganglienzellen anzusehen. Er stellt fest, daß Lichtstrahlen, im Auge gebrochen, die Endigungen des Sehnerven treffen und da eine Veränderung, einen Reiz bewirken. Etwas davon wird weitergeleitet durch Nervenfasern zu Ganglienzellen. Es schließen sich daran vielleicht [71] weitere Vorgänge im Nervensystem, und es entstehen Farbenempfindungen, und diese verbinden sich zu dem, was wir vielleicht Vorstellung eines Baumes nennen. Zwischen den Baum und meine Vorstellung schieben sich physikalische, chemische, physiologische Vorgänge ein. Mit meinem Bewußtsein unmittelbar zusammen hängen aber, wie es scheint, nur Vorgänge in meinem Nervensystem; und jeder Beschauer des Baumes hat seine besonderen Vorgänge in seinem besonderen Nervensystem. Nun können die Lichtstrahlen, bevor sie in mein Auge dringen, von einer Spiegelfläche zurückgeworfen worden sein und sich nun so weiter verbreiten, als wären sie von Orten hinter dem Spiegel ausgegangen. Die Wirkungen auf die Sehnerven und alles Folgende wird nun gerade so vor sich gehen, wie es vor sich gehen würde, wenn die Lichtstrahlen von einem Baume hinter dem Spiegel ausgegangen wären und sich ungestört bis ans Auge fortgepflanzt hätten. So wird denn schließlich auch eine Vorstellung eines Baumes zustande kommen, wenn es einen solchen Baum auch gar nicht gibt. Auch durch Beugung des Lichtes kann durch Vermittelung des Auges und des Nervensystems eine Vorstellung entstehen, der gar nichts entspricht. Die Reizung des Sehnerven braucht aber gar nicht einmal durch Licht zu geschehen. Wenn in unserer Nähe ein Blitz niedergeht, glauben wir Flammen zu sehen, auch wenn wir den Blitz selbst nicht sehen können. Der Sehnerv wird dann etwa durch elektrische Ströme gereizt, die in unserm Leibe infolge des Blitzschlages entstehen. Wenn der Sehnerv dadurch ebenso gereizt wird, wie er durch Lichtstrahlen gereizt werden würde, die von Flammen ausgingen, so glauben wir Flammen zu sehen. Es kommt eben auf die Reizung des Sehnerven an; wie sie zustande kommt, ist gleichgültig.

Man kann noch einen Schritt weitergehen. Eigentlich ist doch diese Reizung des Sehnerven nicht unmittelbar gegeben, sondern nur Annahme. Wir glauben, daß ein von uns unabhängiges Ding einen Nerv reize und dadurch einen Sinneseindruck bewirke; aber genau genommen, erleben wir nur das Ende dieses Vorganges, das in unser Bewußtsein hereinragt. Könnte nicht dieser Sinneseindruck, diese Empfindung, die wir auf einen Nervenreiz zurückführen, auch andere Ursachen haben, wie ja auch derselbe Nervenreiz in verschiedener Weise entstehen kann? Nennen wir das in unser Bewußtsein Fallende Vorstellung, so erleben wir eigentlich nur Vorstellungen, nicht aber deren Ursachen. Und wenn der Forscher alle bloßen Annahmen fernhalten will, so bleiben ihm nur Vorstellungen; alles löst sich ihm in Vorstellungen auf, auch die Lichtstrahlen, die Nervenfasern und Ganglienzellen, von denen er ausgegangen ist. So unterwühlt er schließlich die Grundlagen seines eigenen Baues. Alles ist Vorstellung? Alles bedarf eines Trägers, ohne den es keinen Bestand hat? Ich habe mich als Träger meiner Vorstellungen angesehen; aber bin ich nicht selbst eine Vorstellung? Es ist mir so, als läge ich auf einem Liegestuhle, als sähe ich ein Paar gewichster Stiefelspitzen, die Vorderseite einer Hose, eine Weste, Knöpfe, Teile eines Rockes, insbesondere Ärmel, zwei Hände, einige Barthaare, verschwommene Umrisse einer Nase. Und dieser ganze Verein von Gesichtseindrücken, diese Gesamtvorstellung bin ich selbst? Es ist mir auch so, als sähe ich dort einen Stuhl. Es ist eine Vorstellung. Eigentlich unterscheide ich mich gar nicht so sehr von [72] dieser; denn bin ich nicht selbst ebenfalls ein Verein von Sinneseindrücken, eine Vorstellung? Wo ist denn aber der Träger dieser Vorstellungen? Wie komme ich dazu, eine dieser Vorstellungen herauszugreifen und sie als Trägerin der andern hinzustellen? Warum muß das die Vorstellung sein, die ich ich zu nennen beliebe? Könnte ich nicht ebenso gut die dazu wählen, die ich einen Stuhl zu nennen in Versuchung bin? Doch wozu überhaupt ein Träger der Vorstellungen? Ein solcher wäre doch immer etwas von den bloß getragenen Vorstellungen wesentlich Verschiedenes, etwas Selbständiges, was keines fremden Trägers bedürfte. Wenn alles Vorstellung ist, so gibt es keinen Träger der Vorstellungen. Und so erlebe ich nun wieder einen Umschlag ins Entgegengesetzte. Wenn es keinen Träger der Vorstellungen gibt, so gibt es auch keine Vorstellungen; denn Vorstellungen bedürfen eines Trägers, ohne den sie nicht bestehen können. Wenn kein Herrscher da ist, gibt es auch keine Untertanen. Die Unselbständigkeit, die ich der Empfindung gegenüber dem Empfindenden zuzuerkennen mich bewogen fand, fällt weg, wenn kein Träger mehr da ist. Was ich Vorstellungen nannte, sind dann selbständige Gegenstände. Demjenigen Gegenstande, den ich ich nenne, eine besondere Stellung einzuräumen, fehlt jeder Grund.

Aber ist denn das möglich? Kann es ein Erleben geben, ohne jemanden, der es erlebt? Was wäre dieses ganze Schauspiel ohne einen Zuschauer? Kann es einen Schmerz geben, ohne jemanden, der ihn hat? Das Empfundenwerden gehört notwendig zum Schmerze, und zum Empfundenwerden gehört wieder jemand, der empfindet. Dann aber gibt es etwas, was nicht meine Vorstellung ist und doch Gegenstand meiner Betrachtung, meines Denkens sein kann, und ich bin von der Art. Oder kann ich Teil des Inhalts meines Bewußtseins sein, während ein anderer Teil vielleicht eine Mondvorstellung ist? Findet das etwa statt, wenn ich urteile, daß ich den Mond betrachte? Dann hätte dieser erste Teil ein Bewußtsein, und ein Teil des Inhalts dieses Bewußtseins wäre wiederum ich. U. s. f. Daß ich so ins Unendliche in mir eingeschachtelt wäre, ist doch wohl undenkbar; denn dann gebe es ja nicht nur ein ich, sondern unendlich viele. Ich bin nicht meine eigene Vorstellung, und wenn ich etwas von mir behaupte, z. B. daß ich augenblicklich keinen Schmerz empfinde, so betrifft mein Urteil etwas, was nicht Inhalt meines Bewußtseins, nicht meine Vorstellung ist, nämlich mich selbst. Also ist das, wovon ich etwas aussage, nicht notwendig meine Vorstellung. Aber, wendet man vielleicht ein, wenn Ich meine, daß ich augenblicklich keinen Schmerz habe, entspricht dann nicht doch dem Worte „ich” etwas im Inhalte meines Bewußtsein? und ist das nicht eine Vorstellung? Das mag sein. Mit der Vorstellung des Wortes „ich” mag in meinem Bewußtsein eine gewisse Vorstellung verbunden sein. Dann aber ist sie eine Vorstellung neben andern Vorstellungen, und ich bin ihr Träger wie der Träger der andern Vorstellungen. Ich habe eine Vorstellung von mir, aber ich bin nicht diese Vorstellung. Es ist scharf zu unterscheiden zwischen dem, was Inhalt meines Bewußtseins, meine Vorstellung ist, und dem, was Gegenstand meines Denkens ist. Also ist der Satz falsch, daß nur das Gegenstand meiner Betrachtung, meines Denkens sein kann, was zum Inhalte meines Bewußtseins gehört.

Steiner:

Man geht zunächst von dem aus, was dem naiven Bewußtsein gegeben ist, von dem wahrgenommenen Dinge. Dann zeigt man, daß alles, was an diesem Dinge sich findet, für uns nicht da wäre, wenn wir keine Sinne hätten. Kein Auge: keine Farbe. Also ist die Farbe in dem noch nicht vorhanden, was auf das Auge wirkt. Sie entsteht erst durch die Wechselwirkung des Auges mit dem Gegenstande. Dieser ist also farblos. Aber auch im Auge ist die Farbe nicht vorhanden; denn da ist ein chemischer oder physikalischer Vorgang vorhanden, der erst durch den Nerv zum Gehirn geleitet wird, und da einen andern auslöst. Dieser ist noch immer nicht die Farbe. Sie wird erst durch den Hirnprozeß in der Seele hervorgerufen. Da tritt sie mir noch immer nicht ins Bewußtsein, sondern wird erst durch die Seele nach außen an einen Körper verlegt. An diesem glaube ich sie endlich wahrzunehmen. Wir haben einen vollständigen Kreisgang durchgemacht. Wir sind uns eines farbigen Körpers bewußt geworden. Das ist das Erste. Nun hebt die Gedankenoperation an. Wenn ich keine Augen hätte, wäre der Körper für mich farblos. Ich kann die Farbe
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also nicht in den Körper verlegen. Ich gehe auf die Suche nach ihr. Ich suche sie im Auge: vergebens; im Nerv: vergebens; im Gehirne: ebenso vergebens; in der Seele: hier finde ich sie zwar, aber nicht mit dem Körper verbunden. Den farbigen Körper finde ich erst wieder da, wo ich ausgegangen bin. Der Kreis ist geschlossen. Ich glaube das als Erzeugnis meiner Seele zu erkennen, was der naive Mensch sich als draußen im Raume vorhanden denkt.
So lange man dabei stehen bleibt, scheint alles in schönster Ordnung. Aber die Sache muß noch einmal von vorne angefangen werden. Ich habe ja bis jetzt mit einem Dinge gewirtschaftet: mit der äußeren Wahrnehmung, von dem ich früher, als naiver Mensch, eine ganz falsche Ansicht gehabt habe. Ich war der Meinung: sie hätte so, wie ich sie wahrnehme, einen objektiven Bestand. Nun merke ich, daß sie mit meinem Vorstellen verschwindet, daß sie nur eine Modifikation meiner seelischen Zustände ist. Habe ich nun überhaupt noch ein Recht, in meinen Betrachtungen von ihr auszugehen? Kann ich von ihr sagen, daß sie auf meine Seele wirkt? Ich muß von jetzt ab den Tisch, von dem ich früher geglaubt habe, daß er auf mich wirkt und in mir eine Vorstellung von sich hervorbringt, selbst als Vorstellung behandeln. Konsequenterweise sind dann aber auch meine Sinnesorgane und die Vorgänge in ihnen bloß subjektiv. Ich habe kein Recht, von einem wirklichen Auge zu sprechen, sondern nur von meiner Vorstellung des Auges. Ebenso ist es mit der Nervenleitung und dem Gehirnprozeß und nicht weniger mit dem Vorgange in der Seele selbst, durch den aus dem Chaos der mannigfaltigen Empfindungen Dinge aufgebaut werden sollen. Durchlaufe ich unter Voraussetzung der Richtigkeit des ersten Gedankenkreisganges die
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Glieder meines Erkenntnisaktes nochmals, so zeigt sich der letztere als ein Gespinst von Vorstellungen, die doch als solche nicht aufeinander wirken können. Ich kann nicht sagen: meine Vorstellung des Gegenstandes wirkt auf meine Vorstellung des Auges, und aus dieser Wechselwirkung geht die Vorstellung der Farbe hervor. Aber ich habe es auch
nicht nötig. Denn sobald mir klar ist, daß mir meine Sinnesorgane und deren Tätigkeiten, mein Nerven- und Seelenprozeß auch nur durch die Wahrnehmung gegeben werden können, zeigt sich der geschilderte Gedankengang in seiner vollen Unmöglichkeit. Es ist richtig: für mich ist keine Wahrnehmung ohne das entsprechende Sinnesorgan gegeben. Aber ebensowenig ein Sinnesorgan ohne Wahrnehmung. Ich kann von meiner Wahrnehmung des Tisches auf das Auge übergehen, das ihn sieht, auf die Hautnerven, die ihn tasten; aber was in diesen vorgeht, kann ich wieder nur aus der Wahrnehmung erfahren. Und da bemerke ich denn bald, daß in dem Prozeß, der sich im Auge vollzieht, nicht eine Spur von Ähnlichkeit ist mit dem, was ich als Farbe wahrnehme. Ich kann meine Farbenwahrnehmung nicht dadurch vernichten, daß ich den Prozeß im Auge aufzeige, der sich während dieser Wahrnehmung darin abspielt. Ebensowenig finde ich in den Nerven- und Gehirnprozessen die Farbe wieder; ich verbinde nur neue Wahrnehmungen innerhalb meines Organismus mit der ersten, die der naive Mensch außerhalb seines Organismus verlegt. Ich gehe nur von einer Wahrnehmung zur andern über.
Außerdem enthält die ganze Schlußfolgerung einen Sprung. Ich bin in der Lage, die Vorgänge in meinem Organismus bis zu den Prozessen in meinem Gehirne zu verfolgen, wenn auch meine Annahmen immer hypothetischer
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werden, je mehr ich mich den zentralen Vorgängen des Gehirnes nähere. Der Weg der äußeren Beobachtung hört mit dem Vorgange in meinem Gehirne auf, und zwar mit jenem, den ich wahrnehmen würde, wenn ich mit physikalischen, chemischen usw. Hilfsmitteln und Methoden das Gehirn behandeln könnte. Der Weg der inneren Beobachtung fängt mit der Empfindung an und reicht bis zum Aufbau der Dinge aus dem Empfindungsmaterial. Beim Übergang von dem Hirnprozeß zur Empfindung ist der Beobachtungsweg unterbrochen.
Die charakterisierte Denkart, die sich im Gegensatz zum Standpunkte des naiven Bewußtseins, den sie naiven Realismus nennt, als kritischen Idealismus bezeichnet, macht den Fehler, daß sie die eine Wahrnehmung als Vorstellung charakterisiert, aber die andere gerade in dem Sinne hin- nimmt, wie es der von ihr scheinbar widerlegte naive Realismus tut. Sie will den Vorstellungscharakter der Wahrnehmungen beweisen, indem sie in naiver Weise die Wahrnehmungen am eigenen Organismus als objektiv gültige Tatsachen hinnimmt und zu alledem noch übersieht, daß sie zwei Beobachtungsgebiete durcheinander wirft, zwischen denen sie keine Vermittlung finden kann.
Der kritische Idealismus kann den naiven Realismus nur widerlegen, wenn er selbst in naiv-realistischer Weise seinen eigenen Organismus als objektiv existierend annimmt. In demselben Augenblicke, wo er sich der vollständigen Gleichartigkeit der Wahrnehmungen am eigenen Organismus mit den vom naiven Realismus als objektiv existierend angenommenen Wahrnehmungen bewußt wird, kann er sich nicht mehr auf die ersteren als auf eine sichere Grundlage stützen. Er müßte auch seine subjektive Organisation als
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bloßen Vorstellungskomplex ansehen. Damit geht aber die Möglichkeit verloren, den Inhalt der wahrgenommenen Welt durch die geistige Organisation bewirkt zu denken. Man müßte annehmen, daß die Vorstellung «Farbe» nur eine Modifikation der Vorstellung «Auge» sei. Der sogenannte kritische Idealismus kann nicht bewiesen werden, ohne eine Anleihe beim naiven Realismus zu machen. Der letztere wird nur dadurch widerlegt, daß man dessen eigene Voraussetzungen auf einem anderen Gebiete ungeprüft gelten läßt.
Soviel ist hieraus gewiß durch Untersuchungen innerhalb des Wahrnehmungsgebietes kann der kritische Idealismus nicht bewiesen, somit die Wahrnehmung ihres objektiven Charakters nicht entkleidet werden.

Das müßte ich morgen in Ruhe morgen nochmal lesen. Mit dem Text von Frege habe ich von Vornherein keine Schwierigkeiten gehabt, mit dem von Steiner habe ich sie schon. Steiner operiert überflüssigerweise mit philosophischen Positionen, die er benennt, aber eigenwillig definiert. Nachfolgend zitiert er dann noch Schopenhauer, aber in einer Weise, daß er diesen durch selektives Zitieren grob mißversteht, vgl. die entsprechende Kritik durch H.Traub.

Gruß
Thomas


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