Beispiel: "Der mein Brot ißt, tritt mich mit Füßen" - reingefallen auf falsche Übersetzung

Kosmogonie @, Donnerstag, 14. Juli 2016, 10:52 (vor 3004 Tagen) @ Kosmogonie
bearbeitet von Kosmogonie, Donnerstag, 14. Juli 2016, 21:25

In der Zeitschrift "Die Drei" gab es im Jahre 2002 eine Debatte zur "Wissenschaftlichkeit" der Anthroposophie (genauer wohl: des Steiner-Werkes). Unter dem Titel Geistesschau oder Verstandeswissen äußerte sich Hellmut Haug zur Deutung eines Evangelien-Textes durch Steiner. (Das PDF enthält zwei Beiträge; hier geht es um den zweiten.) Einleitend schreibt er (Hervorhebungen durch mich):

[...] Es gibt im Vortragswerk Rudolf Steiners zahlreiche Aussagen, zu denen er nicht durch Geistesforschung, sondern durch Lektüre oder kombinierenden Verstand gekommen ist und die demnach der Prüfung durch die üblichen schulwissenschaftlichen Mitteln offen stehen. Insbesondere von den Mitgliedervorträgen wird man so pauschal kaum sagen können, was Steiner im Blick auf seine »Geheimwissenschaft im Umriss« für deren Inhalte in Anspruch nimmt: dass alles darin Gesagte der eigenen Geistesschau entsprungen und nichts Angelesenes ohne strenge Prüfung übernommen worden sei. So manche Lesefrucht ist in die Vorträge ungeprüft eingeflossen, so manche Aussage aus nicht hinterfragten Prämissen rational erschlossen worden.

Man tritt also Rudolf Steiner nicht zu nahe, wenn man ihm – der sich selbst nie für unfehlbar gehalten hat – auf diesem Feld von Fall zu Fall »Fehler« nachweist. Und es wäre auch kein Wort darüber zu verlieren, wenn derartige Äußerungen sich immer säuberlich von den sie umgebenden, aus der Geistesschau gespeisten Aussagen trennen ließen. Steiner hat sich als Vortragender jedoch nur selten die Mühe gemacht, die Herkunft seines Wissens im jeweiligen Einzelfall ausdrücklich zu kennzeichnen – mit der bekannten Folge, dass »gläubige« Anhänger auch offenkundige, längst aufgedeckte Irrtümer als unfehlbare, aus dem Mund des Gei[s]tesforschers legitimierte Wahrheiten weiterverkünden. Es wäre wünschenswert, dass dies immer wieder ins Bewusstsein gerufen und vielleicht auch einmal in einem größeren Zusammenhang aufgearbeitet würde. Anthroposophen könnten dadurch gesprächsfähiger werden im Umgang mit Kritikern als auch mit Sympathisanten, und es würde dem verhängnisvollen Eindruck entgegengewirkt, sie würden nur blindlings die Worte ihres Meisters »nachbeten«.

Da ich nicht alles zitieren kann, fasse ich das Weitere in eigene Worte:

Steiner pflegte zu betonen, daß er das Leben Christi selbst "geistig" erforscht habe, sich also nicht einfach nur aus den Evangelien bediene. Die Evangelien zitiere er nur, weil sie seine eigenen Erkenntnisse bestätigen würden. Nun lesen wir in Joh. 13,18 nach Luther: Der mein Brot isset, der tritt mich mit Füßen. Dazu Steiner in GA 103 ("Das Johannes-Evangelium", Mai 1908):

Dieses Wort muss wörtlich genommen werden. Der Mensch isst das Brot der Erde und wandelt mit seinen Füßen hier auf dieser Erde herum. Ist die Erde der Leib des Erdengeistes, das heißt des Christus, dann ist der Mensch derjenige, der mit den Füßen herumwandelt auf dem Erdenleib, der also den Leib dessen, dessen Brot er isst, mit Füßen tritt.

Pech nur, daß Steiner nicht das griechische Original oder, wie Haug schreibt, "seinen sonstigen Gewährsmann Weizsäcker, sondern einfach die Lutherbibel aufgeschlagen hat." Denn nur bei Luther steht es so, und der bevorzugte bekanntlich eine drastische Sprache.

Dagegen heißt es in der von Steiner sonst benutzten Übersetzung von K.Weizsäcker: Der mit mir das Brot isset, hat seine Ferse wider mich erhoben. Das ist die Übersetzung, die dem griechischen Urtext entspricht. Und der Sinnbezug ist eigentlich klar: Es geht um den Verrat durch Judas, der dem am Boden Liegenden, bildlich gesprochen, noch einen Fußtritt versetzt. Es geht nicht um ein Wandeln auf der Erde. Steiners Behauptung, daß Christus der Geist der Erde sei, wird dadurch nicht berührt; nur läßt sich das mit dem Bibeltext nicht belegen.

Der Autor folgert u.A.:

Solche Beobachtungen sollten uns davon abhalten, Skeptiker durch Bibelzitate (»Hier steht es doch!«) von der Wahrheit Steinerscher Aussagen überzeugen zu wollen, etwa auch im Fall der beiden Jesusknaben, über die wir in den Evangelien zwar Andeutungen haben, aber das Entscheidende eben doch nicht dem Bibeltext zu entnehmen ist. Und selbst wenn der »Beweis« einmal schlüssig ist: Das Beweisenwollen aus dem Bibelbuchstaben ist auch aus esoterischer Sicht der falsche Weg. Es verstellt für diejenigen, die wir zu überzeugen suchen, den Zugang zu der Wirklichkeit, von der wir sie überzeugen wollen, und setzt sie auf die falsche Fährte. Ob gewollt oder ungewollt leiten wir sie dazu an, das, was uns hinaufziehen soll, zu uns herabzuziehen und es unserem unverwandelten Verstand als unverdautes »höheres Wissen« einzuverleiben. Da kann es dann sogar etwas Befreiendes haben, wenn dem Schriftbeweis der Boden entzogen wird.

Im Zusammenhang mit den soeben erwähnten von Steiner postulierten zwei Jesusknaben weise ich noch darauf hin, daß Tomberg dieses Postulat nirgends bestätigt hat (Martinus übrigens auch nicht). Er ignoriert es einfach. Das spricht nun weder für noch gegen die Möglichkeit zweier Jesusknaben, aber gerade weil Steiner mit dieser Behauptung allein steht, sollten wir sie besser nicht für eine gesicherte Erkenntnis ansehen.

Nachtrag:

Soeben lese ich in Martin Krieles "Anthroposophie und Kirche", Seite 197:

Andere Äußerungen Rudolf Steiners sind auf Unkenntnis zurückzuführen. Sie beruhen nicht auf esoterischer Einsicht, sondern auf unkritischer Übernahme milieubedingter Vorstellungen. Das gilt zum Beispiel für die Erhebung aller möglichen päpstlichen Äußerungen in den Rang verbindlicher Dogmen und für die Behauptung: "Das Fatale ist, daß der Papst es nie sagt, ob er ex cathedra spricht oder ob er privat spricht."

Das Steiner-Zitat ist hier nicht belegt, aber wenn Steiner es so gesagt haben sollte, dann bestätigt es meine Beobachtung, die ich schon mehrfach geäußert habe: daß nämlich Steiner seinen Kritikern (also Gegnern) oft genug genau das vorwirft, was er selber tut. So wie er selbst nicht sagt, ob er "aus höheren Welten" spricht oder eine private Meinung vorträgt, so wirft er dem Papst vor, nicht anzugeben, ob er aus höherer Autorität oder seinen eigenen spricht.


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