Steiners Geltungsanpruch als Philosoph im klassischen Sinne. Sein Beitrag zur Anthroposophie
Hallo Bernhard,
danke für deine kritischen Überlegungen. Es scheint, daß ich mich in mancherlei Hinsicht zu sehr pointiert ausgedrückt habe. Aber der Reihe nach. Du schreibst:
Nun, sicher war Steiner kein klassisch akademischer Philosoph; was aber nicht gleich heißt, dass er kein Philosoph im ursprünglichen Sinne war!
Doch, zumindest wollte er - ganz klar - ein Philosoph im klassischen Sinne sein, und überdies auch im akademischen Sinne. Letzteres ergibt sich schon daraus, daß er für längere Zeit eine Professur, zumindest aber eine Dozentur an einer Universität angestrebt hat. Dafür hat er auch bemerkenswerte Zugeständnisse gemacht, indem er diejenigen Philosophen, von denen er sich Förderung erhoffte, emphatisch umworben hat. Haeckel zum Beispiel. Siehe auch etwa den Aufsatz "Johannes Volkelt. Ein deutscher Denker der Gegenwart" vom 20. Februar 1887 in der "Deutschen Presse", wiederum veröffentlicht in GA 30. Diesem heute fast völlig vergessenen Philosophen stilisiert er geradezu zum Helden des Deutschtums, eine Charakteristik, die damals immer gut ankam. (Traub erwähnt diesen Aufsatz nicht.)
Weiter schreibst du:
Dass er wirklich(!) zutiefst nach Weisheit und Erkenntnis strebte und uns eine Fülle wahrer Weisheits- und Erkenntnisschätzen übermittelte, kann freilich nur von jemandem ermessen werden, der, selber nach wahrer Sinn-Erfüllung strebend, von seiner Lehre tiefinnig befriedigt, überreich befruchtet durch ihre keimhaften lebensvollen Anregungen zum eigenständigen Forschen und Lernen ermutigt wird.
Darauf antworte ich mit einer Passage aus der Einleitung von "Philosophie und Anthroposophie". Der Autor stellt zunächst fest (Hervorhebungen in Fettdruck durch mich):
- Steiners philosophische Schriften leben zu einem beträchtlichen Teil von ihrer Polemik. So besteht etwa die Hälfte der Philosophie der Freiheit aus polemisch-kritischen Auseinandersetzungen mit zentralen oder auch marginalen Gestalten und Positionen der Philosophie- und Geistesgeschichte. Besonderes Anliegen unserer Untersuchung ist es, diese Polemiken und Kritiken auf ihre Berechtigung und Sachhaltigkeit hin zu untersuchen. Das ist aus zweierlei Gründen erforderlich. Zum einen begründet Steiner seine eigenen Grundannahmen meist weniger durch den Nachweis ihrer inneren Stimmigkeit und Stichhaltigkeit, sondern aus der Entgegensetzung zu bekannten oder weniger bekannten Positionen der Philosophie- und Geistesgeschichte. Die Plausibilität des eigenen Denkansatzes wird so aus dem Nachweis der Fehlerhaftigkeit der kritisierten Gegner zu begründen versucht. Negatio est determinatio. [...] Das Problem dieser Argumentationsmethode besteht darin, dass Steiner in der Regel den Nachweis schuldig bleibt, dass die unterstellten Thesen überhaupt oder so, wie von ihm behauptet, vom jeweiligen Kontrahenten vertreten werden. [...]
Und nun das, worauf es mir ankommt:
- Der zweite Grund für eine kritische Würdigung von Steiners Polemik besteht darin, dass die apologetische Steiner-Literatur ihr überwiegend blind folgt. Sie kennt die Problemgeschichte der Philosophie oder Theologie oft nur aus der Kritik, die Steiner an ihr übt.
Das ist der springende Punkt! Steiner wird deswegen oft so sehr überschätzt, weil man die Geistesgeschichte unterschätzt. Steiner-Apologeten sind regelmäßig bildungs-beschränkt. Sie haben die großen Philosophen nicht gelesen und wissen daher nicht, was ihnen damit entgangen ist. Wenn sie geistige Schätze bei Steiner kennenlernen, dann kommen ihnen diese originell und einmalig vor. Für große Teile der Kosmologie stimmt das auch - aber eben nur da.
Insofern betreibt Traub, wie er selbst schreibt,
- "Entmythologisierung" von Steiners universalem philosophie- und geistesgeschichtlichen Geltungsanspruch.
Weiter schreibst du:
Mein Eindruck ist, dass es Traub allein darum geht, den potenziellen Rivalen Steiner aus dem "ehrwürdigen" Palais der akademischen Elite herauszudrängen bzw. herauszuhalten - zumal der materialistisch geprägte moderne Intellektuelle einen Geist, dem er selber niemals hinauffolgen kann, in der Tat fürchten muss.
Wieso Rivale? Steiner ist doch schon lange tot. Und selbst seine philosophischen Zeitgenossen werden ihn als potenziellen Rivalen kaum gefürchtet haben, zumal Steiner seinerseits fast auschließlich tote "Gegner" aufs Korn genommen hat. (Die Lebenden brauchte er ja, um überhaupt in den "ehrwürdigen Palais" aufgenommen zu werden.)
Merkwürdig aber Dein Hinweis, dass Traub nicht den hellsichtigen Steiner ins Visier nehme! Dann nämlich frage ich mich, was die 1000-seitige Schlammschlacht und Spiegelfechterei gegen den miserablen klassischen Wissenschaftler Steiner bezwecken soll.
Wie gesagt, die durch Hellsicht gewonnenen Erkenntnisse sind nicht Gegenstand von Traubs Kritik. Wie soll man sie denn auch kritisieren, da sie nicht nachprüfbar sind? Ich vermute, sie interessieren ihn auch nicht besonders. Für ihn ist Steiner interessant, weil er Wirkung ausgeübt hat und immer noch ausübt. Seine Untersuchung hat auch keineswegs den Charakter einer Schlammschlacht, und schon gar nicht den einer Spiegelfechterei; gerade letzteres trifft eher auf die philosophische Vorgehensweise Steiners zu, da dieser meistens Positionen bekämpft, die er selber konstruiert hat.
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Nun aber sollten wir uns aber auch mit dem Positiven beschäftigen. Traub zufolge hat ja Steiner einen wirklichen, sehr beachtlichen Fortschritt bewirkt, indem er weiterentwickelt hat, was im Werk von Johann Gottlieb Fichte angelegt war und durch dessen Sohn Immanuel Hermann sowie durch Ignaz Paul Vital Troxler in einer bestimmten Weise ausgestaltet worden ist - allerdings nicht konsequent, weil letztere beiden von der "genetischen" Methode in die beschreibende Methode zurückgefallen sind. Hierüber gibt das Schlußkapitel (S. 1008-1018) eine ausführliche zusammenfassende Auskunft.
Von J.G. Fichte angeregt ist
- dieser konstruierende, mathematische Geist, der den Konstruierenden selbst in den Prozess der Erzeugung, Durchmessung und Gestaltung des geistigen und seelischen Raumes mit einbezieht und auf diesen Weise zu "inneren Beweisen" gelangen läßt, den Steiner für sich reklamiert und den er gegen die bloß äußerliche Abschilderung anthroposophischer Phänomene bei den Pionieren der Anthroposophie [gemeint sind I.H.Fichte und Troxler] in Stellung bringt.
Wohlgemerkt, Steiner war nicht der erste Anthroposoph. Seine Vorgänger, von denen Steiner auch die Bezeichnung "Anthroposophie" übernommen hat, waren I.H.Fichte und Troxler.
- Was aber auch den anthroposophischen Pionieren Troxler und I.H.Fichte nicht gelungen ist, das ist die wirkliche Erkundung und lebendige Erforschung des entdeckten "Kontinent des Geistes". Steiners originärer Beitrag zur Anthroposophie ist es demnach, die Methode und das Instrumentarium für eine wissenschaftliche Erschließung der Neuen Welt der Seele und des Geistes entwickelt und bereitgestellt zu haben. Zumindest hat Steiner sich so verstanden. Sieht man hier aber etwas genauer hin, so erweist sich die gegen die anthroposophischen Entdecker [I.H.Fichte, Troxler] gerichtete Kritik in ihrem methodologischen Grundsatz als eine posthume Kritik des genetischen Denkens der Vätergeneration des Deutschen Idealismus am deskriptiven Phänomenalismus der Söhne. Evidenz - das war die massive Kritik J.G. Fichtes an einer bloß darstellenden, in seinen Worten faktischen Philosophie - läßt sich nicht durch die Beschreibung von Denkoperationen oder geistigen Sachverhalten vermitteln. Ein solcher "äußerlicher Beweis" führt lediglich auf sogenannte "Tat-Sachen des Bewußtseins". Evidenz, Gewissheit, Wahrheit und Verständnis der Dinge entspringen, gemäß dem Postulat des genetischen Denkens, originär aus deren Konstruktion, das heißt nicht aus Tat-Sachen, sondern aus Tat-Handlungen.
Die "Philosophie der Freiheit" ist das Buch, auf welches Steiner seine "anthroposophische Forschungsmethode" begründet. Interessant ist dann aber das Folgende:
- In dieser methodologisch bemerkenswerten Orientierung an der Philosophie der Freiheit kommt womöglich ein gewisses Unbehagen am dozierenden Lehrstil seiner eigenen anthroposophisch-theosophischen Schriften zum Ausdruck. Denn was diesen über weite Strecken fehlt, ist eben jene entscheidende Unmittelbarkeit, die das "wirkliche Darinnenstehen" genetischen Philosophierens ausmacht. Für die Charakterisierung der Anthroposophie kommt es Steiner gegen Ende seines eigenen Bildungsweges im Jahre 1922 nun genau auf diesen Unterschied zwischen dem wirklichen, empfindungsfundierten "Drinnenstehen" in der "seelischen Entwicklung" einerseits und der distanzierten, theoretischen Beschreibung oder Betrachtung der Stufen möglicher Erkenntnis an. Nur das erste, das authentische, persönliche Involviertsein in den Gang der Entwicklung seelischer und geistiger Vermögen kennzeichnet "das Elementar-Methodische" anthroposophischer Forschung (GA 82, 120, 143f.).
Fragen wir uns nun noch einmal: Was wäre, wenn Steiner doch noch die von ihm ersehnte Professur erhalten hätte? Ich vermute, es wäre nicht zu dem erwähnten "dozierenden Lehrstil" gekommen. Dazu nochmal Traub:
- Jeder, der sich einmal etwas ausführlicher mit den theoretischen Schriften Johann Gottlieb Fichtes befasst hat, wird dabei eine eigentümliche Leseerfahrung gemacht haben. Fichtes berühmte und bereits zu seiner Jenaer Zeit bekannte genetische Methode des Philosophierens besteht darin, der Leser- oder Hörerschaft gedankliche Operationen nicht zu beschreiben oder vorzudenken, sondern sie im Geist der Leser und Hörer selber zu konstruieren oder nachkonstruieren zu lassen.
Das ist echte akademische Philosophie!
Ich hoffe, ich habe die Darstellung hiermit etwas vervollständigt.
Gruß
Thomas
gesamter Thread:
- Würde Steiner, wenn er heute lebte, seinen Doktortitel abgeben müssen? - Kosmogonie, 18.05.2016, 01:00
- Zusatz (1): Das katholische / inquisitorische Erbe in Steiners Werk und Umfeld - Kosmogonie, 19.05.2016, 11:55
- Zusatz (2): H.Traub über die Möglichkeit, daß Steiner doch noch Professor geworden wäre - Kosmogonie, 19.05.2016, 21:13
- Zusatz (2): H.Traub über die Möglichkeit, daß Steiner doch noch Professor geworden wäre - Bernhard, 20.05.2016, 23:00
- Steiners Geltungsanpruch als Philosoph im klassischen Sinne. Sein Beitrag zur Anthroposophie - Kosmogonie, 21.05.2016, 12:19
- Steiners Geltungsanpruch als Philosoph im klassischen Sinne. Sein Beitrag zur Anthroposophie - Bernhard, 22.05.2016, 09:15
- I.H.Fichte - Kosmogonie, 24.05.2016, 09:06
- I.H.Fichte - Bernhard, 24.05.2016, 14:35
- I.H.Fichte - Kosmogonie, 24.05.2016, 09:06
- Steiners Geltungsanpruch als Philosoph im klassischen Sinne. Sein Beitrag zur Anthroposophie - Bernhard, 22.05.2016, 09:15
- Steiners Geltungsanpruch als Philosoph im klassischen Sinne. Sein Beitrag zur Anthroposophie - Kosmogonie, 21.05.2016, 12:19
- Zusatz (2): H.Traub über die Möglichkeit, daß Steiner doch noch Professor geworden wäre - Bernhard, 20.05.2016, 23:00