Würde Steiner, wenn er heute lebte, seinen Doktortitel abgeben müssen?

Kosmogonie @, Mittwoch, 18. Mai 2016, 01:00 (vor 3035 Tagen)
bearbeitet von Kosmogonie, Dienstag, 12. Juli 2016, 07:34

[image] Die über 1000-seitige Monografie mit dem Titel: "Philosophie und Anthroposophie" (2011) ist erfreulicherweise nicht von einem Steiner-Apologeten, sondern von einem Fachphilosophen - Hartmut Traub - geschrieben worden. Da fehlt es naturgemäß nicht an kritischen Bemerkungen.

So etwa auf Seite: 460:

Wir haben bereits an anderer Stelle auf die wissenschaftlich unzulässige Unsitte Steiners verwiesen, dass er zentrale Begriffe, bedeutende Ideen und Gedanken, ja ganze Diskussionszusammenhänge aus Schriften anderer Autoren, ohne sie als deren "geistiges Eigentum" zu kennzeichnen, als eigene Überlegungen seinen Arbeiten einverleibt hat.

In einer Fußnote auf der folgenden Seite lesen wir zur selben Sache (Hervorhebung in Fettdruck durch mich):

Dass Steiner an anderer, bedeutend späterer Stelle der Philosophie der Freiheit, die Herkunft des Terminus "all-eines Wesen" wenn auch nicht explizit E. von Hartmann zuweist, so doch in einem Zitat Hartmanns aufführt (GA 4, 208), kann den kritischen Leser kaum mit Steiners Grundhaltung der Ideenpiraterie versöhnen. Vielmehr zeigt dieser Umgang mit fremdem geistigen Eigentum die Sorglosigkeit mit der Steiner in diesen Dingen agiert und vielleicht auch die kritiklose Naivität, die er damit bei seinen Lesern voraussetzt.

Die völlige Immunität der Steinerianer gegen jede Kritik an ihrem Idol habe ich auch gestern wieder erfahren müssen. Und immer wieder wirkt es auf mich frappierend! Nachdem ich auf das o.g. Buch hingewiesen und Einiges daraus erläutert hatte, hieß es sinngemäß: Ja, der Steiner hat doch gar nicht den Anspruch erhoben, die Erwartungen der sogenannten Fachphilosophen - ohnehin alles dekadente Figuren - zu erfüllen. Diese vielmehr sind es, die dem Steiner nicht gewachsen waren, und ihm immer noch nicht gewachsen sind.

Zudem habe Steiner ja in einem Brief an seine Freundin Rosa Mayreder geschrieben, was er mit seiner "Philosophie der Freiheit" "eigentlich" bezweckt habe. Nämlich seinen eigenen Weg zu finden. Daß Andere ihm auf diesem Weg folgen können, sei für ihn nicht vorrangig gewesen.

Wirklich?

Auf Seite 791 lesen wir - und das wird auch wohl auch in der Sache niemand bestritten können -, daß Steiner sich mit der Veröffentlichung seiner "Philosophie der Freiheit" Hoffnungen auf eine philosophische Professur gemacht habe. Zitat:

Seit den frühen 1890er Jahren arbeitete Steiner an einer akademischen Karriere. Es war sein großer Wunsch, "in den heiteren Himmel der reinen, von aller Anhängerschaft freien, philosophischen Lehrtätigkeit fliegen" zu können (GA 39, 94). Nach der Promotion sollte die Philosophie der Freiheit so etwas wie seine Habilitationsschrift sein. Im Dezember 1895, also zwei Jahre nach der Publikation der Philosophie der Freiheit, schreibt Steiner an Pauline und Ladislaus Specht:

"Nach Maßgabe der Verhältnisse müßte ich natürlich gerade in Jena die Privatdozentur anstreben. Nun ist zweifellos, daß nach dem, was ich geleistet, diese Privatdozentur ein Pappenstiel sein müßte von seiten derer, die sie zu gewähren haben" (ebd., 273).

[...] Dass sich Steiner im Kapitel XII seiner Philosophie der Freiheit ausführlich mit dem Entwicklungsbegriff Haeckels und seiner eigenen These vom ethischen Individualismus beschäftigt, hat offensichtlich nicht nur erkenntnistheoretische Gründe. Die vehemente Zustimmung zum naturwissenschaftlichen Darwinismus, die, wie wir gesehen haben, seinen eigenen ethischen Individualismus an den Abgrund der Unhaltbarkeit und vielleicht sogar darüber hinaus führt, ist auch als tiefe Verbeugung vor Ernst Haeckel und dem Einfluss, den dieser auf eine mögliche Berufung und Anstellung Steiners in Jena hätte nehmen können zu verstehen.

Dass die demonstrative Versöhnung von Haeckels Darwinismus und der eigenen Freiheitsphilosophie auch eine karrierestrategische Entscheidung war, ist keine bösartige Unterstellung, sondern wird von Steiner selbst offen zugegeben. [...] "Ich rechne mit meinen eigenen Bestrebungen sehr auf Haeckel."

Aber bekanntlich wurde nichts daraus; Haeckel, und nicht nur er, reagierte ablehnend. Doch was waren die wirklichen Gründe? Auf Seite 368 f., wiederum in einem anderen Zusammenhang, urteilt Hartmut Traub, ich zitiere:

Dass es Steiner nicht gelingt, eine zufriedenstellende Konzeption des Geistes oder der Seele und deren Tätigkeit zu entwickeln, hat seinen Grund darin, dass er ein undialektischer, man könnte auch scharf sagen, dass er ein unphilosophischer Denker und reiner Analytiker ist. Vieles wird bei Steiner getrennt betrachtet und unterschieden, das Denken wird vom Beobachten und vom Bewußtsein getrennt, Wollen vom Fühlen und so weiter. Die Antwort auf die Frage aber, wie das eine mit dem anderen "im menschlichen Gemüth" (Kant) zusammenhängt oder wie sie womöglich durch einander bestimmt sind, das zu untersuchen und zu klären, ist Steiner seinen Lesern meist schuldig geblieben.

[...]

Durch sein wesentlich analytisches, trennendes und wenig dialektisch-synthetisch vermittelndes Denken ist Steiner somit ein im engeren Sinne nichtphilosophischer Denker zu nennen.

Nun könnte man dagegen einwenden, dass gerade Rudolf Steiner - etwa in seiner Wesenstypologie der Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung - synthetische Erkenntnisformen, Intuition und produktive Ideenschau, entwickelt und sie dort strikt vom analytisch "beweisenden" Erkenntnistypus unterschieden hat.

Das ist zutreffend. Steiner kennt durchaus organische und synthetische Formen der Erkenntnis. Aber auf sein eigenes Denken werden diese Erkenntnisarten durchgängig nicht angewendet. So verfährt denn auch die Typologie der Erkenntnis in den Grundlinien selbst nicht vermittelnd - genetisch, wie Fichte sagen würde - sondern analytisch, ausgrenzend-schematisch und in der Sache wenig organisch-intuitiv, sondern vielmehr phänomenologisch bis thetisch-dogmatisch (GA 2, Kapitel E, 86ff.). Steiner sucht hier nicht, wie von Plato und Goethe für den synoptikos-dialektikos gefordert, die Momente der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Erkenntnistypen, sondern reduziert sich auf die Beschreibung ihrer Differenz und läßt es dabei bewenden. Und genau das ist eben undialektisch, das heißt unphilosophisch gedacht.

Und schließlich - ich belasse es mit dem folgenden Zitat, um meine Leser und mich selbst nicht zu sehr zu ermüden -, lesen wir auf Seite 267:

Im ursprünglich ersten Kapitel des Buches, "Die Ziele des Wissens", hatte Steiner die Philosophie eine Kunst und den "wahren Philosophen" selbst einen "Begriffskünstler" genannt (A 4a, 249). Zur Begriffskunst gehört, und Steiner fordert das, insbesondere von denen, die er kritisiert, "Unterscheidungsvermögen" (GA 4, 19). Dass und was Steiner im neuen Kapitel I alles "in [den] einen Topf" (ebd.) der Freiheitsfrage wirft, ohne klar zu stellen, worum es sich dabei jeweils handelt, spricht nicht dafür, dass der Autor bereit wäre, den Maximen zu folgen, die er anderen so dringend anempfiehlt.

Für die "endlose Verwirrung" in der Frage nach dem Leitbegriff des Buches, über die wir auch anhand einiger Interpretationsarbeiten der Sekundärliteratur gesprochen haben, ist Steiner an dieser Stelle zunächst einmal selbst verantwortlich. Und es spricht nicht von selbstkritischem Urteilsvermögen, wenn Steiner die Verwirrung über das Thema des Buches, wie sie etwa in Hartmanns Stellungnahme zur Unklarheit des verwendeten Freiheitsbegriffs zum Ausdruck kommt, ausschließlich auf das Missverständnis seiner Leser abwälzt (GA 28, 244). Denn Steiners Eigenanteil an diesem Begriffsnebel ist - in Folge seines "Mangels an Unterscheidungsvermögen" - nicht unbeträchtlich.

Bis zuletzt hat Steiner dies nicht einsehen wollen. In einem Stuttgarter Vortrag vom 6. Februar 1923 sagte er, "Das hat man eben nicht mitgemacht: die „Philosophie der Freiheit“ anders zu lesen, als andere Bücher gelesen werden"; d.h. man hätte vermeiden müssen, sie "mit derselben Seelenhaltung zu lesen, wie man etwa andere philosophische Darstellungen liest." Selbstkritik war wirklich nicht Steiners Stärke. Hätte er nicht voraussehen und akzeptieren müssen, daß die Philosophen, um deren Gunst er warb, ihre jeweils eigene Seelenhaltungen behalten, anstatt sie zugunsten eines Habilitanden preisgeben würden?

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Es ist nun nicht so, daß das ganze Buch aus derart vernichtender Kritik bestünde. Die Lektüre ist vielmehr äußerst lehrreich und aufbauend, denn das vorgelegte philosophische Wissen ist enorm. Insofern ist das Buch freilich auch sehr anstrengend. Wer noch keinen Philosophen von Rang studiert hat, wird damit seine Schwierigkeit haben. Der wird aber auch Steiners philosophische Bücher nicht beurteilen, also auch nicht wirklich verstehen können, denn Steiner hat selber philosophischen Rang für sich beansprucht - tragischerweise, denn dieser wurde ihm seitens derer, die wirklich Rang besitzen, nicht zuerkannt.

Was Steiners höhere Erkenntnisse betrifft, so bleiben sie von der Kritik m.E. unberührt. Denn da handelt es sich um verschiedene Ebenen. Die eine Begabung verstärkt nicht die andere; sie kann, im Gegenteil, auch auf Kosten der anderen hervortreten.


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