Zusatz (2): H.Traub über die Möglichkeit, daß Steiner doch noch Professor geworden wäre

Kosmogonie @, Donnerstag, 19. Mai 2016, 21:13 (vor 3060 Tagen) @ Kosmogonie
bearbeitet von Kosmogonie, Freitag, 20. Mai 2016, 22:07

Im Waldorfblog erschien am 22. Oktober 2013 ein Gedankenexperiment von Hartmut Traub unter dem Titel: Schwierigkeiten und Chancen einer Vermittlung von Philosophie und Anthroposophie im Werk Rudolf Steiners.

Das fängt so an, ich zitiere:

Am 27. März 1895 erhält Rudolf Steiner einen Brief von Ernst Haeckel, in dem ihm der berühmte Biologieprofessor aus Jena folgendes mitteilt:

„Hochgeehrter Herr Doktor, bevor sich Magnifizenz der hiesigen Universität sowie der zuständige Minister unseres Landes mit einem formalen Schreiben an Sie wenden, ergreife ich vorab die Gelegenheit einer Mitteilung an Sie und komme ohne weiter Erklärung der näheren Umstände sogleich zum Kern der Sache. Das Kollegium der philosophischen Fakultät der Universität Jena erwägt nach dem Abgange des Kollegen Julius Lange nach Kiel die Vakanz seiner Professur durch Sie zu ersetzten. Ihre kürzlich erschienene Philosophie der Freiheit sowie Ihre zahlreichen anderen Schriften philosophischen Inhalts haben die Fakultät von der Originalität Ihrer Philosophie überzeugt und diese Arbeiten als formale Erfüllung der Berufungsvoraussetzungen anerkannt. Dass ich – nach unseren Gesprächen während meines sechzigsten Geburtstags, bei dem Sie die Güte hatten, anwesend zu sein – an der Entscheidungsfindung der Fakultät nicht ganz unbeteiligt war, können Sie sich denken. Darüber aber, lieber Steiner, Stillschweigen. Rechnen Sie also in Kürze mit Ihrer Berufung nach Jena.

Ich beglückwünsche Sie zur Erfüllung dieses, Ihres Herzenswunsches. Endlich ist es Ihnen vergönnt, – wie Sie einmal so schön sagten – ‚im heiteren Himmel der reinen philosophischen Lehrtätigkeit fliegen zu können‘. Ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit an der Sache des Monismus, die uns beiden ja so am Herzen liegt.

Hochachtungsvoll, Ihr ergebener Ernst Haeckel.

Jena, 27. März 1895“

Im Wintersemester 1895/96 tritt Steiner dann die Professur für Moderne Philosophie und Weltanschauungsfragen in Jena an und liest dort über die Grundlagen der Erkenntnistheorie sowie über das Thema Pessimismus und Optimismus. Steiner hat endlich das Ziel seiner schriftstellerischen Bemühungen erreicht.

So hätte es kommen können. Und ganz unwahrscheinlich wäre es nicht gewesen, wenn es so gekommen wäre. Jedoch: Haeckels Brief gab es nicht, und auch Steiners Berufung nach Jena erfolgte – zu seiner Enttäuschung – leider nicht. Der Flug „in den heiteren Himmel philosophischer Lehrtätigkeit“ fiel aus. Ob zu Steiners Glück oder Unglück, das war damals noch nicht abzusehen.

Für mich ist nun eine der beiden Folgerungen interessant. Und zwar die erste, die Traub nur in einem Absatz abhandelt:

Was lehrt uns dieses Gedankenexperiment? Meines Erachtens Zweierlei.
Erstens: Die durchaus mögliche Wendung seines Lebensweges in die akademische Laufbahn hätte Steiners berufliches Interesse und späteres Engagement in der esoterischen Bewegung höchstwahrscheinlich in sehr engen Grenzen gehalten. Wahrscheinlich wäre es auch zu den Begegnungen mit Jakobowski, Blawatzky und Besant nicht gekommen. Ohne sie aber hätte Steiner seine eigene esoterische Theorie und Praxis nicht entwickelt.

Dagegen die zweite Folgerung, die Traub auf den verbleibenden 16 Seiten abhandelt, nämlich

die Tatsache, dass Steiners bis dahin verfasste Schriften auch ohne die esoterische Wende seines späteren Lebensweges vorlägen und ohne deren spätere anthroposophische Überarbeitung und Deutung verstanden werden müssten,

ist für mich zunächst uninteressant.

Also nochmal zurück zur ersten Folgerung: Steiners Engagement "in der esoterischen Bewegung" hätte sich "höchstwahrscheinlich in sehr engen Grenzen gehalten."

Ich bezweifle das. Zumindest wäre es ein Ergebnis, das ich für höchst bedauerlich hielte, denn in der Kosmologie, Hierarchienlehre und Christologie sehe ich Steiners eigentliche Leistung - auch wenn ich seine diesbezüglichen Aussagen für nicht bewiesen und - gegenwärtig - für nicht beweisbar halte. Meiner Vermutung nach hätte sich dieses Engagement in jedem Falle Bahn gebrochen, notfalls auch nach einer Beendigung der akademischen Laufbahn. Denn wer außer ihm wäre, sub specie aeternitatis, dazu berufen gewesen?

Nehmen wir nun also an, Steiner hätte sein esoterischen Engagement im akademischen Rahmen entfalten können, so wäre dies sicher auf höherem Niveau vonstatten gegangen, einfach weil er durch seinen Kollegenkreis viel mehr wissenschaftlich gefordert gewesen wäre. Vor Allem hätte er seine Kosmologie viel systematischer darstellen müssen. Unklarheiten und Inkonsequenzen wären seinen philosophischen Kollegen sofort aufgefallen und hätten sie zu Kritik herausgefordert.

Der Grund, daß Traub diesen Gedanken nicht weiter verfolgt, liegt anscheinend darin, daß er Steiner als "Geistesforscher" nicht ernstnimmt, wie übrigens viele moderne Steiner-Exegeten auch; siehe dazu einen anderen Artikel im Waldorfblog: Anthroposophische Reformation. Dogmen der liberalen Anthroposophie.

Diese "liberalen Anthroposophen" interessieren sich mehr für das philosophische Frühwerk Steiners. Für mich ist dieses, wie gesagt, ziemlich uninteressant. Steiner ist selbst kein originaler Philosoph. Man lernt durch seine philosophischen Schriften auch die originalen Philosophen nicht wirklich kennen, da Steiner sie, wie Traub es detailliert nachweist, im Grunde nur heranzieht, um sich selber abzugrenzen und zu profilieren. Dabei hat er sie, mit Ausnahme vielleicht der beiden Fichtes (Vater und Sohn) nicht einmal gründlich gelesen, und meistens völlig mißverstanden. (Am Beispiel Schopenhauers wird das besonders deutlich.) Auch seine umfangreiche Schrift "Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt" ist völlig ungeeignet, ein renommiertes Geschichtswerk der Philosophie zu ersetzen.

Wer die von Steiner oftmals empfohlene "Nebenübung des Denkens" praktizieren will, ist natürlich mit der Lektüre der "Philosophie der Freiheit" besser bedient als mit dem Räsonnement über einen Bleistift. Noch besser bedient ist er aber, wenn er zur Kontrolle die von Steiner zitierten Philosophen als Referenzen heranzieht, so wie Traub es getan hat. Und noch besser dürfte es sein, diese Autoren gleich im Original zu lesen. Man gewinnt dann Anschluß an die "philosophia perennis", die bleibende Philosophie, über die man sich weltweit verständigen kann - und eben nicht nur in Steinerianer-Kreisen.


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