Steiners Schatten/Doppelgänger

Kosmogonie @, Donnerstag, 28. Juli 2016, 15:31 (vor 2921 Tagen) @ Bernhard
bearbeitet von Kosmogonie, Freitag, 29. Juli 2016, 02:08

Dir geht es primär um die öffentliche Diskreditierung Steiners, seiner Anhänger und seiner Anthroposophie [...]. Und schon allein dieser Vorsatz macht jede Deiner noch so "objektiven" Stellungnahmen zu Steiner wertlos.

Am letzten Satz scheiden sich unsere Geister. Wobei ich "unsere" im erweiterten Sinne verstehe: Hier scheiden sich die wahren Anthroposophen von den Steinerianern. Und weil das von allgemeinerem Interesse ist, will ich das jetzt einmal erläutern.

Man kann einem Menschen nur gerecht werden, wenn man auch seine Schattenseiten berücksichtigt. Steiner hat dies selbst erkannt und treffend beschrieben. Man kann das nachlesen in seiner Geheimwissenschaft, Seite 363 (Hervorhebungen durch mich):

Es kann zum Beispiel jemand die Erfahrung machen, daß eine von ihm oder andern verehrte Persönlichkeit diese oder jene Eigenschaft habe, die er als Charakterfehler bezeichnen muß. Durch eine solche Erfahrung kann der Mensch in einer zweifachen Richtung zum Nachdenken veranlaßt werden. Er kann sich einfach sagen: Jetzt, nachdem ich dies erkannt habe, kann ich jene Persönlichkeit nicht mehr in derselben Art verehren wie früher. Oder aber er kann sich die Frage vorlegen: Wie ist es möglich, daß die verehrte Persönlichkeit mit jenem Fehler behaftet ist? Wie muß ich mir vor­stellen, daß der Fehler nicht nur Fehler, sondern etwas durch das Leben der Persönlichkeit, vielleicht gerade durch ihre großen Eigenschaften Verursachtes ist? Ein Mensch, welcher sich diese Fragen vorlegt, wird vielleicht zu dem Ergebnis kommen, daß seine Verehrung nicht im geringsten durch das Bemerken des Fehlers zu verringern ist. Man wird durch ein solches Ergebnis jedesmal etwas gelernt haben, man wird seinem Lebensverständnis etwas beigefügt haben.

Nun wäre es gewiß schlimm für denjenigen, der sich durch das Gute einer solchen Lebensbetrachtung verleiten ließe, bei Per­sonen oder Dingen, welche seine Neigung haben, alles Mög­liche zu entschuldigen oder etwa gar zu der Gewohnheit überzugehen, alles Tadelnswerte unberücksichtigt zu lassen, weil ihm das Vorteil bringt für seine innere Entwickelung. Dies letztere ist nämlich dann nicht der Fall, wenn man durch sich selbst den Antrieb erhält, Fehler nicht bloß zu tadeln, sondern zu verstehen; sondern nur, wenn ein solches Verhalten durch den betreffenden Fall selbst gefordert wird, gleichgültig, was der Beurteiler dabei gewinnt oder verliert. Es ist durchaus richtig: Lernen kann man nicht durch die Verurteilung eines Fehlers, sondern nur durch dessen Ver­stehen. Wer aber wegen des Verständnisses durchaus das Mißfallen ausschließen wollte, der käme auch nicht weit. Auch hier kommt es nicht auf Einseitigkeit in der einen oder andern Richtung an, sondern auf Gleichmaß und Gleichge­wicht der Seelenkräfte.

Wenn ich nun das Tadelnswerte an Steiners in Verhalten und Charakter besonders betone, dann tue ich es, um dem Steinerismus ein Korrektiv zu setzen. Denn der Steinerismus ist ein echtes Hindernis für die Befruchtung unserer Kultur durch die Anthroposophie.

Ein aus meiner Sicht besonders kennzeichnendes Beispiel für Steiners Schattenseite hat Friedrich Rittelmeyer in seiner "Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner" gegeben. Ich muß es aus dem Gedächtnis reproduzieren. Rittelmeyer spricht da von der Zeit, da Steiner die Dreigliederungsbewegung zu popularisieren suchte und sich in verrauchten Kneipen mit Arbeiterführern verbale Auseinandersetzungen lieferte. Einmal, so Rittelmeyer, habe Steiner einen jungen, dialektisch unbedarften Sprecher, der "brav sein Sprüchlein vortrug", dermaßen zusammengeschrieen, daß der danach hinter die Tür ging und, offenbar im Affekt einer erlittenen Demütigung, weinte.

Aus meiner Sicht ist dieses Verhalten durch nichts zu rechtfertigen. Ein Lehrer, der einen Schüler so behandelte - mißhandelte! -, riskierte zumindest ein Disziplinarverfahren. Nun war der junge Mann wahrscheinlich schon erwachsen. Nach dem Zivilrecht war Steiners Verhalten auch nicht justiziabel; das wäre vielmehr etwa ein Faustschlag gewesen. Doch aus Sicht des Opfers ist es gleich, ob die Demütigung durch einen Faustschlag oder durch Worte vor den Kameraden erfolgte. Vor den Kameraden mußte er sich durch Steiners verbaler Kraftmeierei degradiert gefühlt haben.

Allenfalls läßt sich noch einwenden, daß sich der Vorfall mehr in einem kriegerischen als in einem pädagogischen Milieu abgespielt habe. Aber auch die Soldaten-Ehre verbietet es, den Gegner individuell zu demütigen.

Was ging da in Steiners Seele vor? Es war eine cholerische Aufwallung, die ihn jedes Maß verlieren ließ, und die bei anders erzogenen Menschen, etwa im Arbeitermilieu, nicht selten zu Tätlichkeiten führt. Daß Steiner die Folge seiner Tat inkauf genommen oder gar beabsichtigt habe, halte ich für ausgeschlossen. Denn er wollte ja überzeugen, und es ist klar, daß man durch Angriffe nicht überzeugt, sondern sich neue Gegner schafft. Zudem schafft man sich damit eine karmische Last. Vielleicht ist der tätliche Angriff auf Steiner, der zur Beendigung seiner Vortragstätigkeit in Deutschland geführt hat, auch als eine karmische Folge dieses Verhaltens zu verstehen!

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Ich habe das Beispiel gewählt, weil es einen Grundzug von Steiners Charakter "schlag(licht)artig" erhellt. Steiner war nicht nur reizbar und angriffslustig (und, was geistiges Eigentum betrifft, räuberisch); er schuf sich insofern auch Gegner, wo es unnötig, ja der Sache abträglich war. Grundsätzlich neigte er zur Überreaktion bis hin zur Maßlosigkeit. Gleichzeitig war er aber auch sehr empfindlich, das heißt, er reagierte im Fall einer empfundenen Niederlage mit lang anhaltender, zum Ende sogar sich steigernder Verbitterung. Und mehr noch: Er war unfähig zur Selbstkritik und Selbstkorrektur. Mir ist keine Stelle bekannt, wo Steiner einen Irrtum korrigiert oder einen Fehler wirklich bereut hätte. So etwas wie ein mea-culpa-Bekenntnis der Heiligen lag ihm völlig fern.

Wenn man den "Schatten" oder "Doppelgänger" bei Steiner einmal erkannt hat, dann ist man davor gefeit, Steiner zur Aufblähung des eigenen Ego zu vereinnahmen. Man muß sich sagen können: So wie Steiner war, möchte ich nicht sein - was dies betrifft. Und wohlgemerkt, jede Vereinnahmung ist eine Art von Verachtung. Nehmen wir an, der Vereinnahmte schämt sich im Kamaloka seiner Verfehlungen, dann wird ihm die Glorifizierung seiner Anhänger jedenfalls nicht hilfreich, nicht angenehm sein.

Ziehe ich inbezug auf Steiners Leistungen und Fehler die Bilanz, so weckt diese in mir Gefühle des Respekts und der Dankbarkeit. Diese sind nun ehrlich, das heißt: weder brauche ich etwas an Steiner zu beschönigen, noch muß ich in dessen Gegnern persönliche Feinde sehen. Und ich meine, daß dies genau die Haltung ist, die der Anthroposophie eine Zukunft ermöglicht.


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