Steiners Schatten/Doppelgänger
Dir geht es primär um die öffentliche Diskreditierung Steiners, seiner Anhänger und seiner Anthroposophie [...]. Und schon allein dieser Vorsatz macht jede Deiner noch so "objektiven" Stellungnahmen zu Steiner wertlos.
Am letzten Satz scheiden sich unsere Geister. Wobei ich "unsere" im erweiterten Sinne verstehe: Hier scheiden sich die wahren Anthroposophen von den Steinerianern. Und weil das von allgemeinerem Interesse ist, will ich das jetzt einmal erläutern.
Man kann einem Menschen nur gerecht werden, wenn man auch seine Schattenseiten berücksichtigt. Steiner hat dies selbst erkannt und treffend beschrieben. Man kann das nachlesen in seiner Geheimwissenschaft, Seite 363 (Hervorhebungen durch mich):
Wenn ich nun das Tadelnswerte an Steiners in Verhalten und Charakter besonders betone, dann tue ich es, um dem Steinerismus ein Korrektiv zu setzen. Denn der Steinerismus ist ein echtes Hindernis für die Befruchtung unserer Kultur durch die Anthroposophie.
Ein aus meiner Sicht besonders kennzeichnendes Beispiel für Steiners Schattenseite hat Friedrich Rittelmeyer in seiner "Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner" gegeben. Ich muß es aus dem Gedächtnis reproduzieren. Rittelmeyer spricht da von der Zeit, da Steiner die Dreigliederungsbewegung zu popularisieren suchte und sich in verrauchten Kneipen mit Arbeiterführern verbale Auseinandersetzungen lieferte. Einmal, so Rittelmeyer, habe Steiner einen jungen, dialektisch unbedarften Sprecher, der "brav sein Sprüchlein vortrug", dermaßen zusammengeschrieen, daß der danach hinter die Tür ging und, offenbar im Affekt einer erlittenen Demütigung, weinte.
Aus meiner Sicht ist dieses Verhalten durch nichts zu rechtfertigen. Ein Lehrer, der einen Schüler so behandelte - mißhandelte! -, riskierte zumindest ein Disziplinarverfahren. Nun war der junge Mann wahrscheinlich schon erwachsen. Nach dem Zivilrecht war Steiners Verhalten auch nicht justiziabel; das wäre vielmehr etwa ein Faustschlag gewesen. Doch aus Sicht des Opfers ist es gleich, ob die Demütigung durch einen Faustschlag oder durch Worte vor den Kameraden erfolgte. Vor den Kameraden mußte er sich durch Steiners verbaler Kraftmeierei degradiert gefühlt haben.
Allenfalls läßt sich noch einwenden, daß sich der Vorfall mehr in einem kriegerischen als in einem pädagogischen Milieu abgespielt habe. Aber auch die Soldaten-Ehre verbietet es, den Gegner individuell zu demütigen.
Was ging da in Steiners Seele vor? Es war eine cholerische Aufwallung, die ihn jedes Maß verlieren ließ, und die bei anders erzogenen Menschen, etwa im Arbeitermilieu, nicht selten zu Tätlichkeiten führt. Daß Steiner die Folge seiner Tat inkauf genommen oder gar beabsichtigt habe, halte ich für ausgeschlossen. Denn er wollte ja überzeugen, und es ist klar, daß man durch Angriffe nicht überzeugt, sondern sich neue Gegner schafft. Zudem schafft man sich damit eine karmische Last. Vielleicht ist der tätliche Angriff auf Steiner, der zur Beendigung seiner Vortragstätigkeit in Deutschland geführt hat, auch als eine karmische Folge dieses Verhaltens zu verstehen!
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Ich habe das Beispiel gewählt, weil es einen Grundzug von Steiners Charakter "schlag(licht)artig" erhellt. Steiner war nicht nur reizbar und angriffslustig (und, was geistiges Eigentum betrifft, räuberisch); er schuf sich insofern auch Gegner, wo es unnötig, ja der Sache abträglich war. Grundsätzlich neigte er zur Überreaktion bis hin zur Maßlosigkeit. Gleichzeitig war er aber auch sehr empfindlich, das heißt, er reagierte im Fall einer empfundenen Niederlage mit lang anhaltender, zum Ende sogar sich steigernder Verbitterung. Und mehr noch: Er war unfähig zur Selbstkritik und Selbstkorrektur. Mir ist keine Stelle bekannt, wo Steiner einen Irrtum korrigiert oder einen Fehler wirklich bereut hätte. So etwas wie ein mea-culpa-Bekenntnis der Heiligen lag ihm völlig fern.
Wenn man den "Schatten" oder "Doppelgänger" bei Steiner einmal erkannt hat, dann ist man davor gefeit, Steiner zur Aufblähung des eigenen Ego zu vereinnahmen. Man muß sich sagen können: So wie Steiner war, möchte ich nicht sein - was dies betrifft. Und wohlgemerkt, jede Vereinnahmung ist eine Art von Verachtung. Nehmen wir an, der Vereinnahmte schämt sich im Kamaloka seiner Verfehlungen, dann wird ihm die Glorifizierung seiner Anhänger jedenfalls nicht hilfreich, nicht angenehm sein.
Ziehe ich inbezug auf Steiners Leistungen und Fehler die Bilanz, so weckt diese in mir Gefühle des Respekts und der Dankbarkeit. Diese sind nun ehrlich, das heißt: weder brauche ich etwas an Steiner zu beschönigen, noch muß ich in dessen Gegnern persönliche Feinde sehen. Und ich meine, daß dies genau die Haltung ist, die der Anthroposophie eine Zukunft ermöglicht.
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