Max Dessoir kommt zu Wort

Kosmogonie @, Samstag, 23. Juli 2016, 17:19 (vor 3009 Tagen) @ Kosmogonie
bearbeitet von Kosmogonie, Montag, 01. August 2016, 19:29

Der Anstand verlangt, daß ich, nachdem ich ein langes Zitat von Steiner gebracht habe, auch Max Dessoir zu Wort kommen lasse, und zwar, wie angekündigt, mit seiner späteren, erweiterten Darstellung der Anthroposophie. Doch scheint mir, daß längere Zitate sich in diesem Falle erübrigen. Denn Dessoir geht auf Steiners Vorwürfe nicht ein, vielleicht, weil er sie gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Auch sind seine eigenen, hier stark vermehrten Einwände gegen die Anthroposophie nicht besonders originell, weil es im Wesentlichen die gleichen Einwände sind, die von denen, welche die von Steiner behaupteten höheren Welten nicht anerkennen, immer schon vorgebracht worden sind.

Das Kapitel über mit dem Titel "III. Anthroposophische Weltanschauung" ist so untergliedert:

Es folgt dann noch ein IV. Kapitel: "Anthroposophische Wissenschaft", und ein V. Kapitel: "Anthroposophisches Menschentum". Alles zusammen nimmt 131 Seiten ein.

Obwohl durchwegs von Unverständnis und Ablehnung geprägt, ist der Duktus Dessoirs doch entspannter und gemäßigter als der Duktus Steiners. Nur gelegentlich tritt leichter Spott zutage. Und in so manchen seiner Kritikpunkte hat Dessoir zweifellos recht, weil eben Steiner, was für mich außer Zweifel steht, eine durchaus sehr zwiespältige Persönlichkeit gewesen ist. Seine Flüge sind grandios, seine Abstürze ins Allzumenschliche aber ebenso. Diese vertikale Spannweite, die ihresgleichen nicht findet, kann man natürlich auch als "Größe" bezeichnen.

Die Einleitung beginnt mit folgenden bemerkenswerten Sätzen (Hervorhebungen in Golddruck durch mich):

Eine Darstellung anthroposophischer Weltanschauung begegnet ungewöhnlichen Schwierigkeiten; ihre Beurteilung birgt Gefahren. Nie war ein Theologe so überzeugt von der Unangreifbarkeit seiner Dogmen, nie ein Philosoph so durchdrungen von der Notwendigkeit seines Systems, wie Rudolf Steiner von der unbedingten Wahrheit und und ausschließenden Geltung seiner Lehre. Wer ihr nicht zustimmt, beweist nach seinem Urteil damit nur geistige Unfähigkeit und sittliche Schwäche. Anthroposophische Lehren verstehen, heißt, sie billigen; anthroposophische Lehren nicht verstehen, heißt, befangen urteilen und unklar denken.

Das ist zutreffend beschrieben. - Ich übergehe die weitere Darstellung, um mich auf das Schlußkapitel ("Anthroposophisches Menschentum") zu konzentrieren. Es beginnt wie folgt:

Es ist schwer, dem Wunsche nach einem Verständnis für das Werk Rudolf Steiners Erfüllung zu schaffen und dabei die so nötige kritische Haltung zu bewahren.

Doch Dessoir bewahrt Haltung - was ihn wohltuend von Steiner unterscheidet.

Als unendlich viel schwieriger aber erweist sich der Versuch, das Wesentliche seiner Persönlichkeit zu erfassen. Von welcher Seite her sollen wir einen Zugang zu ihr finden? Steiners anthroposophische Lehre, der Niederschlag seiner geistigen Bemühungen, ist ein chaotisches Gebilde, in dem Gedanken von vielen Köpfen und aus allen Jahrhunderten durcheinanderwirbeln. Die Lehre verrät uns manches über die Weite von Steiners Denk- und Einfühlungsvermögen, läßt uns einen Blick tun in die Menge seiner mehr oder minder begründeten Kenntnisse und vermittelt den Eindruck einer ungewöhnlichen Gedächtniskraft und eines großen Arbeitsvermögens. Aber der Weg zur Lösung des Problems "Steiner" wird von ihr eher verbaut als eröffnet. Denn es fragt sich sehr, ob die intellektuelle Leistung das Entscheidende an Rudolf Steiner ist. Für das Maß seiner Wirkung war sie allein keineswegs bestimmend. Mit guten Gründen konnte immer wieder behauptet werden: der Führer der Anthroposophen sei vor allem ein Willensmensch, eine Machtnatur gewesen; sein Handeln beweise es. Doch auch von hier aus dringen wir nicht in das Innerste seines Wesens: so wenig wir eine Einheitlichkeit in Steiners Gedankenwelt festzustellen vermochten, so wenig können wir ein eindeutiges Zielstreben in seinem Tun erkennen. Wollen wir schließlich der sittlichen Persönlichkeit Steiners nahekommen durch ein Eindringen in seinen Charakter, so scheitern wir an der gleichen Vieldeutigkeit, ob wir nun von seinen Werken oder der Selbstdarstellung ausgehen, ob wir uns auf eigenen Bekanntschaft mit Steiner berufen können oder dem Urteil anderer glauben müssen.

Das charakterologische Problem spiegelt sich am deutlichsten in Steiners Wirkung auf die Zeitgenossen und in der Bewertung, die sie ihm wie seinem Werk angedeihen lassen. Nicht daß er sowohl Zustimmung wie Ablehnung fand, ist ausschlaggebend: diese Doppelheit könnte für die Entschiedenheit seiner Stellungnahme in lebenswichtigen Fragen sprechen. Doch daß die Hochschätzung seiner Person und seiner Leistung so maßlos übersteigert wird und so gänzlich urteilslos ist; daß beim Erwachen der Kritik regelmäßig ein völliges Abrücken von Steiner erfolgt; daß selbständige Köpfe ihn fast ausnahmslos ablehnen, das gibt zu denken. Diese Tatsachen haben nichts damit zu tun, daß auch geniale Menschen und ihre Leistungen verschieden beurteilt werden, denn bei derartigen Gegensätzen des Urteils handelt es sich meist um die veränderte Sehweise der einander folgenden Geschlechter oder doch um Abweichungen, die in erkennbaren und erklärbaren Grenzen bleiben. Hier hat sich vor unseren Augen etwas anderes ereignet.

Rittelmeyer, der selbst ehrlich um die Wahrheit ringt, rechnet Steiner zu den "voraneilenden Menschheitsgenien" wie Aristoteles und Augustin, spricht von einem "Hochmenschentum" [...] Es überrascht nun nicht mehr das Bekenntnis: "Nirgends, wohin ich sehe, erblicke ich ähnlich Großes und Entscheidendes", "...wenn irgend einer in der Gegenwart ein Übermensch ist, dann ist er es". [...]

Ebenso vernehmlich aber erklingen von der Gegenseite die Stimmen derer, die Steiner zu den gefährlichsten Erscheinungen der verhängnisvollen letzten Jahrzehnte rechnen [...]. [...]

Messias und Antichrist in einer Gestalt, entweder einer der Größten im Reich des Geistes und einer der Reinsten in der Welt des Ethos, - oder ein Verderbenschaffender und Irreleitender, ein charakterloser Lump, so sieht Rudolf Steiner aus im Urteil seiner Zeitgenossen, im Urteil von Menschen, die ihn Auge in Auge gesehen, Rede und Gegenrede mit ihm getauscht, ihn aus Wort und Schrift kennen gelernt haben. Wie soll man aus dieser Wirrnis zur Klarheit kommen? Mit seiner Lebensbeschreibung hat Steiner es uns leicht und schwer zugleich gemacht. Denn diese Lebensgeschichte ist wohl mit subjektiver Ehrlichkeit geschrieben, aber man wird das Gefühl nicht los, daß Steiner viel in seine frühen Jahre hineinlegt, was nicht vorhanden war, daß auch er - kein Selbstbiograph wird dieser Gefahr gänzlich entrinnen - aus der Kenntnis des Gewordenen das Werdende aus- und umdeutet. Unverkennbar sind die Erlebnisse seiner Jugendzeit von Steiner - möglicherweise unbewußt - stark umgedeutet worden. [...]

Steiner ist mit der stilisierten Darstellung seiner Entwicklung nicht durchgedrungen. Heute wissen noch zu viele von der Zeit, in der der spätere Anthroposophen-Führer sich arg respektlos über alles Geistige zu äußern pflegte. "Es gab nichts im Himmel und auf Erden, was dieser Naturwissenschaftler nicht lachend gelästert hätte." (Max Osborn in der Vossischen Zeitung vom 1. April 1925.)

Mit Alledem erzählt uns Dessoir nichts eigentlich Neues. Ich habe es zitiert, um einen Eindruck seines Bemühens um Ausgewogenheit zu vermitteln. - Die Einschätzung Steiners als "Lump" findet sich übrigens auch in den Aufzeichnungen der von Steiner (einseitig?) hoch geschätzten Rosa Mayreder. Sie schreibt im Rückblick, daß sie mit Steiner nur Niedriges und Gemeines erlebt habe. Auch Steiners Angaben in seinem "Lebensgang" widerspricht sie heftig.

Abschließend will ich nur noch wiedergeben, was Dessoir über Steiner Sprache sagt. Nachdem er einige für Steiner bezeichnende Sätze zitiert hat (die ich noch nicht einmal für die schlimmsten halte), ruft er aus:

Welche Verschwommenheit und Verwaschenheit im Ausdruck, welche Blässe des Gedankeninhalts! Nirgends ist Steiner eine Wendung geglückt, die sich einprägt; es gibt in seinen Schriften keine einzige Seite, an der man als Leser Freude haben kann. Unübersichtlich sind seine Sätze, durch Einschachtelungen gedehnt. Ein Wust von Füllseln ballt sich zusammen und wird endlos wieder ausgewalzt. Dieses leere Gerede, vorgebracht in einem Jammerdeutsch, peingt und quält; noch nie hat ein Mensch mit geistigem Anspruch so arg in der Mitteilung versagt. [...]

Steiners stilistische Unfähigkeit ist nicht nur von mir bemerkt worden. "Wer Anspruch auf geistige Reife oder gar Führerschaft erhebt, muß vor der Sprache unbedingt bestehen können", sagt Ernst Michel, und er erklärt inbezug auf Steiner: "es fehlt ihm überhaupt jedes persönliche Verhältnis zur Sprache. Von einem Sprachstil kann bei ihm nicht die Rede sein." Ein anderer Beurteiler ruft aus: "Nun Steiner: welcher geistige Mensch hätte je, seit es eine deutsche Sprache gibt, ein so grauenhaftes Deutsch geschrieben oder gesprochen?" Steiners Jünger hingegen nehmen für diesen offenkundigen Mangel - soweit sie ihn überhaupt empfinden - die eigene Begründung des Meisters als ausreichend an. "Das Umständliche und Weitschweifige, das Dr. Steiner oft in seiner Satzbildung hatte", so bemerkt Rittelmeyer (Meine Lebensbegegnung S.26), erklärte sich, wie ich einem Gespräch entnahm, ...aus der Rücksicht auf die Beschaffenheit seiner Hörer."

Waren also seine Hörer so blöd, daß sie ein anständiges Deutsch nicht verstanden hätten? Nun, es wäre doch verwunderlich, wenn Steiner in seinem außerordentlichen Selbstbehauptungswillen seine Sprachschwäche nicht wiederum seinen Kritikern zugeschrieben hätte.

Und damit sei es genug.

Wer einwendet, daß ich mit der teilweisen Wiedergabe von Dessoirs Steiner-Kritik (die ich mir mehr oder minder übrigens zueigen mache) allzu destruktiv vorgegangen sei, dem halte ich entgegen, daß es für mich etwas Befreiendes hat, der unter Anthroposophen verbreiteten luziferischen Steiner-Verherrlichung ab und zu ein Gegengewicht setzen zu können. Denn sowohl die Verherrlichung wie auch die völlige Ablehnung, sie beide vernebeln, jeweils für sich genommen, den Blick. Nur der mittlere Weg, so glaube ich, ermöglicht ein Durchkommen zum Wesentlichen.


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