Tombergs Hinweis auf das Schneewittchen-Märchen inbezug auf den "Kosmos der Weisheit"

Kosmogonie @, Dienstag, 24. Mai 2016, 22:26 (vor 3057 Tagen)
bearbeitet von Kosmogonie, Donnerstag, 26. Mai 2016, 12:22

Es wurde angeregt, Märchen "im geisteswissenschaftlichen Kontext" auszulegen. Ich selbst traue mir das nicht zu, aber es gibt ein Beispiel, das ich wiedergeben will, weil es mich sehr angesprochen hat.

In seinen "Anthroposophischen Betrachtungen über das neue Testament und die Apokalypse", XI.1. (S.209f. der zweiten Auflage) schreibt V.Tomberg, ich zitiere (Hervorhebung in Fettdruck durch mich):

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Denn der Kosmos, so wie er ist und so wie er durch die Saturn-, Sonnen-, Mond- und die Erdentwickelung bis hin zum Mysterium von Golgatha geworden ist, ist ein Kosmos der Weisheit, der zu einem Kosmos der Liebe werden soll.

[...]

Der gegenwärtige Kosmos, so wie er sich von außen der sinnlichen Anschauung gibt, kann als "gefrorene Weisheit" erlebt werden. Die große moralische Impression, welche man von der Gesamtheit des Weltgefüges erhält, ist im wesentlichen diejenige eines Gebilde aus vereister Weisheit. Ungeheure Weisheitsmassen haben sich in die Welt ergossen, aber sie sind in ihr erstarrt zur kopernikanischen "machina coelestis".

[...] Die Worte Nietzsches: "Die Welt - ein Tor zu tausend Wüsten stumm und kalt" werden von jeder menschlichen Seele als wahr erlebt, welche in der Welt nicht nur nach Tatsachen und Gesetzen, sondern auch nach der Seele fragt. Denn Seele offenbart sich nicht in der Welt: die Gesetze der Welt zeugen von wunderbarer Weisheit, der gegenüber der menschliche Verstand sich nur als Zwerg, als kleiner Wicht, empfinden kann, aber die starren Linien dieser Gesetze ergeben die geistig-moralische Gestalt des Sarges der Seele.

Dieser Sarg ist nicht trübe - er ist durchsichtig wie Kristall, aber er ist starr und stumm. Aber gleichzeitig legt er Zeugnis davon ab, was ihm fehlt. Denn wie die Kälte von der Wärme Zeugnis ablegt und die Erstarrung von der Bewegung, so spricht der Welt-Sarg von der Seele. In diesem Sinne "enthält" der kristallinische Sarg die Seele - und weist mit den Mitteln seiner Kälte und Starrheit auf die Seele, wie sie sein müßte, wenn sie in der Welt lebte: er zeigt das Bild der toten Seele.

So ersteht vor der Seele des mit dem Blicke der "moralischen Impression" die Welt anschauenden Menschen die ungeheuer bedeutsame Imagination des Schneewittchen-Märchens: das kristallinische Grab mit der toten Jungfrau, von Zwergen behütet. Diese Imagination ist der Ausdruck der Tatsache, daß der gegenwärtige Kosmos ein Kosmos der Weisheit ist, dem die Liebe fehlt.

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Erinnern wir uns:

Sneewittchen (Schneeweißchen) war das Wunschkind einer Königin, die aber nach der Geburt starb, von ihrer Wunscherfüllung also nichts mehr hatte. An ihre Stelle trat "die Neue" des Königs, schön, aber maßlos eitel und neidisch. Die hatte einen Zauberspiegel, der auf ihre narzißtische Wißbegier antwortete - möglicherweise ein Symbol des reflektierenden, "wissenschaftlichen" Bewußtseins. Demnach war die nunmehr siebenjährige Stieftochter "tausendmal schöner" als sie.

Das führte zur Tötungsabsicht, doch der beauftragte Jäger ließ das Mädchen laufen, und so landete es bei den sieben Zwergen "über den Bergen", wo es zunächst gut aufgehoben war. Das bekam die Königin auch spitz - über ihren Spiegel. Es folgte der zweite Tötungsversuch, ohne Vermittler, und in der Wohnung des Opfers. Doch die Zwerge kehrten noch rechtzeitig heim und bewahrten Schneewittchen vor dem Erstickungstod. Ein dritter Tötungsversuch, mit einem vergifteten Kamm, scheiterte ebenso. Erst mit ihrem vierten Versuch hatte sie Erfolg: der vergiftete Apfel im Mund des Mädchens wurde von den Zwergen nicht entdeckt.

"Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein neidisches Herz Ruhe haben kann."

Allerdings ging der Leichnam nicht in Verwesung über. Schneewittchen blieb schön und wirkte wie schlafend, so daß die Zwerge sie in einen gläsernen Sarg legten. Nach langer Zeit kam endlich ein Königssohn, der die Scheintote mit sich nehmen durfte. Bei Gelegenheit des Transportes fiel ihr das vergiftete Apfelstück aus dem Mund, und, na klar, nun wurde sie Königsbraut. Zur Hochzeit eingeladen war auch die böse Stiefmutter.

Der Zauberspiegel sagte auch diesmal eiskalt, was Sache war: "Frau Königin, ihr seid die Schönste hier; aber die junge Königin ist tausendmal schöner als ihr." Von schrecklicher Ahnung und brennender Neugier erfüllt, folgte die Ex-Schönheitskönigin der Einladung, worauf sie in rotglühende Eisenpantoffeln treten mußte und, sich daran verbrennend, sich zu Tode tanzte.

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Der Begriff "Kosmos der Weisheit" kommt in Steiners "Geheimwissenschaft" innerhalb der Beschreibung des Alten Mondes zur Sprache, und zwar ziemlich am Ende, nachdem der Mondkörper sich wieder mit seiner Sonne vereint hat. Auf das dadurch harmonisierte Menschenwesen, ebenso aber auch auf die anderen Reiche, wirken jetzt die "Geister der Weisheit" (Kyriotetes) ein.

  • "Daher kann das, was innerhalb dieser Entwicklungszeit aus dem Sonnen-Mondgebilde wird, "Kosmos der Weisheit" genannt werden. - Wenn dann nach einer Ruhepause unser Erdensystem als Nachkomme dieses "Kosmos der Weisheit" erscheint, so zeigen sich alle die auf der Erde neu auflebenden, aus ihren Mondenkeimen ersprießenden Wesen so, daß sie weisheitserfüllt sind. [...] Die Erde ist, wie sich später in dieser Schrift zeigen wird, der wiedererstandene "alte Mond". Und sie erscheint als ein weisheitsvolles Gebilde, weil in der geschilderten Epoche sie von den "Geistern der Weisheit" mit deren Kräften durchsetzt worden ist.

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Auch Luzifer, wörtlich: der Lichtbringer, wird mit der Weisheit in Beziehung gesetzt. Die luziferischen Wesen, so heißt es irgendwo, hätten eine ganz starke Sehnsucht nach dem Alten Mond. Später, nach der Erde-Mond-Trennung, pflanzten sie dem Menschen Weisheit ein (nicht Sexualität; das taten die Exusiai; und auch nicht sinnliche Begierden, das taten ab Mitte der Atlantis die ahrimanischen Geister).

Der Ursprung des luziferischen Falls liegt sogar noch früher, nämlich auf der Alten Sonne, wo Luzifer zunächst mit Christus verbrüdert war, dann aber, aufgrund seiner Selbstliebe, sich vom schöpferischen Wort abschnitt und damit in Rückstand geriet.

Die luziferische Weisheit ist somit korrumpiert. Sie hat kalte, aber auch heiße Aspekte. Im Schneewittchen-Märchen könnte man sie als die Stiefkönigin symbolisiert sehen: schönheitstrunken, dabei selbstverliebt und folglich mißgünstig, also kalt; zielstrebig fragend und handelnd; erfüllt von brennender Neugier, brennendem Haß und zuletzt selber daran verbrennend.

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Doch vergessen wir nicht den Fortgang, das ist das Opfer des Christus auf Golgatha und die Bekehrung und Reue des Luzifer. Damit wurde der Kosmos der Weisheit in den Kosmos der Liebe verwandelt, keimhaft jedenfalls. Da aber nicht alle Menschen die Umwandlung mitmachen werden (vielleicht ist es nur eine relativ kleine Schar), wird, wenn der Kosmos der Liebe vollendet sein wird, von diesem ein neuer, eigentlich: degenerierter, Kosmos der Weisheit sich abspalten. Wir als Christen leben aber, um den Keim des Kosmos der Liebe entfalten zu helfen.

Tombergs Hinweis auf das Schneewittchen-Märchen inbezug auf den "Kosmos der Weisheit"

Bernhard, Donnerstag, 26. Mai 2016, 09:14 (vor 3056 Tagen) @ Kosmogonie

Hallo, Thomas!

Eine grandiose Auslegung von Tomberg! Ich glaube, er trifft den Sinngehalt des "Schneewittchens" auf den Punkt.

Solche tief- und weitreichenden Deskriptionen suche ich bei den Steinerianern und exoterischen Anthroposophen vergebens...

Und wenn ich Deine Gedanken zu dem Märchen lese, dann würde ich sagen, dass Dir Das Märchen-Deuten sehr wohl zuzutrauen ist!

Die echten Märchen sind ja aus einem natürlichen und gesunden imaginativen Hellsehen heraus entstanden. Deshalb glaube ich - was man selber als wahrer Anthroposoph schon selber feststellen kann -, dass in den echten Märchen jedes Detail bedeutsam ist. Im Falle von "Schneewittchen" z.B. der Kamm, das enge Mieder, die Apfelfrucht; sodann die Körperregionen, wo diese potentiellen Tötungsmittel zu Einsatz kommen: Kopf/Haare (Kamm), Brustregion/Thorax (Mieder), Unterleib/Stoffwechselregion (Apfelfrucht als Nahrung)... -

Die psychologische Märchen-Auslegung fällt - zumal uns beiden, wie ich meine - nicht sehr schwer. Die kosmologische wiederum ist zumindest für mich selber schon weitaus schwieriger, aber um nichts weniger reizvoller als erstere. Ich möchte mir mal, sofern ich sie mir leisten kann, die indischen Veden vornehmen, welche mit ihrer aparten Bildersprache und sinnreichen Themenqualität den westlichen Mythen in nichts nachstehen. -

Lieben Sonntagsgruß!

Bernhard

Märchenbilder mit kosmologischem Hintergrund erfordern inspirierte Erkenntnis

Kosmogonie @, Donnerstag, 26. Mai 2016, 14:41 (vor 3056 Tagen) @ Bernhard
bearbeitet von Kosmogonie, Donnerstag, 26. Mai 2016, 20:37

Hallo Bernhard,

zunächst eine Detailfrage:

dass in den echten Märchen jedes Detail bedeutsam ist. Im Falle von "Schneewittchen" z.B. der Kamm, das enge Mieder, die Apfelfrucht; sodann die Körperregionen, wo diese potentiellen Tötungsmittel zu Einsatz kommen: Kopf/Haare (Kamm), Brustregion/Thorax (Mieder), Unterleib/Stoffwechselregion (Apfelfrucht als Nahrung)... -

Soweit habe ich nicht gleich gedacht. Aber du hast recht. Ich meine, daß man darüber durchaus auch Mutmaßungen anstellen darf und sollte.

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Die psychologische Märchen-Auslegung fällt - zumal uns beiden, wie ich meine - nicht sehr schwer. Die kosmologische wiederum ist zumindest für mich selber schon weitaus schwieriger, aber um nichts weniger reizvoller als erstere.

Sie ist schwieriger, insofern sie kosmologische Kenntnisse - zumindest ein kosmologisches Interesse - voraussetzt. In der Kosmologie handelt es sich um Vorgänge als Offenbarungen höherer Wesen. Um diese zu erkennen, braucht man die inspirative Erkenntnisse.

Zur Verdeutlichung:

  • Durch Imagination erkennt und erbildet man Eigenschaften höherer (oder auch untersinnlicher) Wesen;
  • durch Inspiration erkennt und mitvollzieht man sinnvoll zusammenhängende Tathandlungen höherer Wesen;
  • durch Intuition begegnet man die ausführenden Wesen selber.

Eine kosmologische Deutung des kinderfressenden Kronos gab Steiner (ich weiß nicht mehr an welcher Stelle): Es handle sich um den Vorgang der Spiegelung auf dem Alten Saturn. Was von außen zum Saturn geschickt wurde, das wurde zurückgespiegelt und am Ursprung wieder aufgenommen, "aufgefressen".

Ebenso der Mythos von irgendwelchen Riesen, die Steine hinter sich werfen, aus denen dann Pflanzen (?) wachsen: Das verbildlicht den Vorgang der sexuellen Fortpflanzung, die damals (in der frühen Atlantis) aber noch unbewußt verlief.

Anders steht es mit der Sage von der Gralsburg. Dabei handelt es sich um die Verbildlichung von Vorgängen, die wir beim Einschlafen erleben oder erleben würden, wenn wir wach bleiben könnten, siehe GA 145-6.

Noch persönlicher sind die Träume, welche körperliche Vorgänge abbilden, oder Vorgänge, die mit dem Einschlafen und Aufwachen direkt zu tun haben. Ich z.B. träume häufig, am Rande von hohen Gebäuden zu stehen, und empfinde dabei deutliche Höhenangst. (Oft weiß ich aber schon, daß ich kurz vor dem Aufwachen bin, und lasse mich dann "todesmutig" fallen, was wiederum angenehm ist.) Oder ich krieche in sehr enge Kellergänge hinein, was mir, wenn überhaupt, dann erst ganz zuletzt Angst macht. Oder ich fahre einen Lkw (meine frühere Erwerbstätigkeit) und rolle zurück, obwohl ich versuche, zu bremsen; eigentlich müßten dadurch katastrophale Folgen eintreten, aber es passiert nie wirklich Schlimmes. Früher habe ich auch sehr häufig von nächtlichen Eisenbahnfahrten geträumt.

In der Kosmologie aber hat man es mit Gesetzmäßigkeiten, darunter auch Zahlenverhältnissen zu tun. Das ist etwas, was mich stark anspricht. Aus genau diesem Grunde war auch die Astrologie für mich während vieler Jahre interessant. (Ich habe mich von ihr abgewandt, weil ich meine Erwartungen an sie nicht erfüllt sah.)

Auch Mathematik und Logik gehören in diesem Zusammenhang erwähnt. In jedem Falle spielt hier das inspirative Element eine Rolle. Bezeichnenderweise schreibt Steiner in den "Stufen der höheren Erkenntnis", daß man zum Erwerb der inspirativen Erkenntnis das höhere Fühlen (nicht das Vorstellen, wie bei der Imagination) ausbilden muß, wobei er besonders das Gefühl für Wahrheit und Unwahrheit hervorhebt. Und darum geht es ja in der Mathematik und Logik. Auch wenn es zunächst geradezu paradox erscheint, Gefühle und Logik in einen Zusammenhang zu bringen. Aber es sind ja, was manche Menschen nicht begreifen, objektive Gefühle, Weltgefühle. Logik ist nicht zwangsläufig leerer Schematismus. Logik kommt von Logos, dem Wort. Jede Aussage ist ein Verhältnis zwischen dem Sprechenden und dem Ausgesprochen, also ein Wahrheits-Verhältnis; und jeder Dialog ist ein rhythmisches Verhältnis zwischen zwei Sprechenden, fundiert in den Herz- und Atemrhythmen.

Wir sollten nicht bei der Imagination stehenbleiben!

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Ich möchte mir mal, sofern ich sie mir leisten kann, die indischen Veden vornehmen, welche mit ihrer aparten Bildersprache und sinnreichen Themenqualität den westlichen Mythen in nichts nachstehen. -

Damit habe ich mich bisher noch nicht befaßt. Aber vielleicht könnte mich das auch interessieren. Vielleicht.

Beste Grüße zum Feiertag!
Thomas

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