Die Kontroverse zwischen Steiner und Max Dessoir

Kosmogonie @, Freitag, 22. Juli 2016, 22:16 (vor 2969 Tagen)
bearbeitet von Kosmogonie, Samstag, 23. Juli 2016, 12:07

Steiners Schrift "Von Seelenrätseln" von 1917 enthält ein Kapitel, das überschrieben ist: Max Dessoir über Anthroposophie. Darin polemisiert Steiner auf 43 Seiten gegen Auffassungen, die Dessoir im selben Jahr auf nur 9 Seiten in seinem Buch "Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaft in kritischer Betrachtung" veröffentlicht hat.

Ich habe mir dieses Buch (344 Seiten) aus der Bibliothek besorgt. Und weil mich interessierte, ob und wie Dessoir auf Steiners Polemik reagiert hat, habe ich mir die 6., neu bearbeitete Auflage von 1931 (562 Seiten) gleich mitbesorgt. Eigentlich wollte ich genauer auf die gegenseitigen Vorwürfe eingehen, aber ich bin zum Schluß gekommen, daß sich das im Grunde nicht lohnt.

Im Einzelnen hat Steiner mit allen seinen Vorwürfen gegen Dessoir fraglos recht. Wohlgemerkt: Dieser hat, was man damals die Hauptwerke Steiners nennen konnte, ziemlich gründlich gelesen. Zum Beispiel sind die Grundzüge der Kosmologie recht gut wiedergegeben. Als Materialist, der er ist, kann er diese Denkart jedoch nicht akzeptieren. So unterlaufen ihm dann, was nicht überraschen sollte, auch Fehler in der Wiedergabe.

Steiner beißt sich sogleich an diesen Irrtümern fest, was bisweilen einen pedantischen Eindruck macht. So beanstandet er die folgende Passage in Dessoir Darstellung:

Alt-Indien ist nicht das jetzige Indien, wie denn überhaupt alle geographischen, astronomischen, historischen Bezeichnungen sinnbildlich zu verstehen sind. Auf die indische Kultur folgte die urpersische, geführt von Zarathustra, der aber viel früher lebte als die in der Geschichte diesen Namen tragende Persönlichkeit. Andere Zeitabschnitte schlössen sich an. Wir stehen in der sechsten Periode.

Der letzte Satz ist offensichtlich irrtümlich, denn wir stehen in der fünften Periode. Der unbedarfte Leser wird das nicht bemerken, der belesene wird es verzeihen. - Nach Steiner ist zudem die Behauptung im ersten Satz falsch, wonach Alt-Indien, geographisch gesehen, nicht das heutige Indien sei. Aber auch das dürfte einen gewogenen Leser nicht abhalten, sich die "Geheimwissenschaft" vorzunehmen.

Doch Steiner nimmt diese Unrichtigkeiten zum Anlaß für eine riesenlange Entgegnung:

Dessoir unterrichtet nun seine Leser über dasjenige, was ich über die Menschheitsentwickelung ausgeführt habe, in der folgenden Art. Meine Darstellung der Entwickelungsformen, welche der gegenwärtigen Menschenbildung noch nahe stehen, gibt er so an, daß ich für eine bestimmte Zeitperiode in der Vergangenheit eine alt-indische Kultur der Menschheit annehme und dann andere Kulturperioden darauf folgen lasse. Bei Dessoir heißt es: [Siehe oben.] - Was ich über eine viel ältere Zeit der Menschheitsentwickelung sage, in der diese noch in Formen zutage trat, die den gegenwärtigen sehr unähnlich sind, darüber berichtet Dessoir so: «Dieser Mensch hat sich herausgebildet in einer urfernen Vergangenheit, die Steiner das lemurische Zeitalter der Erde nennt - warum wohl? -, und in einem Lande, das damals zwischen Australien und Indien lag (was also eine richtige Ortsbestimmung und kein Symbol ist).» - Ich will nun hier ganz davon absehen, daß ich diese «Wiedergaben» des von mir Dargestellten auch im ganzen nur als Zerrbilder ansehen kann, die völlig ungeeignet sind, irgend einem Leser ein Bild von dem zu geben, was ich meine. Ich will nur über einen Punkt dieser «Wiedergaben » sprechen. Dessoir ruft in seinem Leser den Glauben hervor, ich spreche davon, daß das im Geiste Geschaute sinnbildlich (symbolisch) zu verstehen sei, daß also Alt-Indien, wohin ich eine alte Menschheitskultur verlege, ein «symbolisches Land» sei. Später findet er es tadelnswert, daß ich eine viel ältere menschliche Entwickelungsperiode nach Lemurien - zwischen Australien und Indien - verlege und dabei mir selbst in grausamer Weise widerspreche, da man doch aus meiner Darstellung merken könne, daß ich Lemurien für eine richtige Ortsbestimmung und kein Symbol halte.

Es ist durchaus zuzugeben, daß ein Leser des Dessoirschen Buches, der nichts von mir gelesen hat, und bloß Dessoirs Bericht entgegennimmt, zu der Ansicht kommen muß, meine Darstellung sei ganz undurchdachtes, verworrenes und in sich selbst widerspruchsvolles Zeug. - Was steht aber über das von mir als Alt-Indien gekennzeichnete Erdengebiet wirklich in meinem Buche ? Man lese die betreffenden Ausführungen nach, und man wird finden, daß ich mit vollkommener Deutlichkeit zum Ausdruck bringe, wie Alt-Indien kein Symbol, sondern das Erdgebiet ist, das, wenn auch nicht ganz genau, so doch im wesentlichen mit dem zusammenfällt, das jedermann Indien nennt. Dessoir berichtet also seinem Leser als meine Ansicht etwas, was mir auch nie eingefallen ist, vorzustellen. Und weil er findet, daß ich bei der Schilderung vom alten Lemurien wohl so spreche, wie es mit meiner wirklichen Meinung vom alten Indien zusammenstimmt, nicht aber mit dem Unsinn, den er mich sagen läßt, zeiht er mich des Widerspruches.

Man fragt sich, wie kommt das Unglaubliche zustande, daß mich Dessoir behaupten läßt, Alt-Indien sei « sinnbildlich » zu verstehen. Mir ergibt sich darüber aus dem ganzen Zusammenhange seiner Darstellung das Folgende. Dessoir hat etwas gelesen über die Vorgänge im Seelenleben, die ich kennzeichne als den Weg zum geistigen Schauen, dessen erste Stufe das imaginative Erkennen ist. Ich schildere da, wie die Seele durch ruhige Hingabe an gewisse Gedanken aus ihren Untergründen die Fähigkeit heraus entwickelt, imaginative Vorstellungen zu bilden. Ich sage, zu diesem Ziele ruhe die Seele am besten in sinnbildlichen Vorstellungen. Niemand sollte durch meine Darstellung auf den Irrtum verfallen, die sinnbildlichen Vorstellungen seien etwas anderes als das Mittel, um zum imaginativen Erkennen zu kommen. Dessoir meint nun, weil man mittels Sinnbildern zum imaginativen Vorstellen kommt, bestehe dies letztere auch nur in Sinnbildern, ja er schreibt mir die Ansicht zu, wer sich seiner Geistorgane bedient, schaue nicht durch die imaginativen Vorstellungen auf Wirklichkeiten, sondern nur auf Sinnbilder.

Meiner Darlegung gegenüber ist die Dessoirsche Behauptung, ich weise in solchen Fällen wie beim alten Indien auf Sinnbilder hin, nicht auf Wirklichkeiten, nur mit dem Folgenden zu vergleichen. Jemand findet aus der Beschaffenheit eines Stückes Erdboden, daß es in der Gegend, in der er sich befindet, vor kurzer Zeit geregnet haben müsse. Er teilt das einem anderen mit. Er kann diesem selbstverständlich nur seine Vorstellung davon mitteilen, daß es geregnet hat. Deshalb behauptet ein Dritter, der Erste sage, die Beschaffenheit des Erdbodens rühre nicht von einem wirklichen Regen her, sondern von der Vorstellung des Regens. Ich behaupte weder, daß die imaginativen Vorstellungen in bloßen Sinnbildern sich erschöpfen, noch daß sie selbst eine Wirklichkeit sind, sondern daß sie sich auf eine Wirklichkeit beziehen, wie das bei den Vorstellungen des gewöhnlichen Bewußtseins auch der Fall ist. Und mir unterstellen, ich weise nur auf sinnbildliche Wirklichkeiten hin, kommt gleich der Behauptung, der Naturforscher sehe nicht in dem Wesenhaften, auf das er sich durch seine Vorstellungen bezieht, sondern in diesen selbst die Wirklichkeit.

Wenn man Anschauungen, die man bekämpfen will, so darstellt, wie dies durch Dessoir geschieht, so ist der Kampf recht leicht. Und Max Dessoir macht es sich wirklich leicht, sich mit vornehmer Art auf den kritischen Richterstuhl zu setzen; aber er erreicht dies nur dadurch, daß er meine Darlegung erst in ein Zerrbild, ja oft in eine völlige Torheit verkehrt, und dann diese seine eigene Schöpfung abkanzelt. Er sagt: «Es ist widerspruchsvoll, daß aus (erschauten) und nur (symbolisch) gemeinten Sachverhalten die Tatbestände der Wirklichkeit sich entwickelt haben sollen.» Doch ist solch widerspruchsvolle Art des Vorstellens bei mir nirgends zu finden. Daß meine Darstellung sie enthält, ist eine Unterschiebung Dessoirs. Und wenn dieser gar sich zu der Behauptung versteigt: «Denn nicht darum handelt es sich, ob man das Geistige als Gehirntätigkeit ansieht oder nicht, sondern darum, ob das Geistige in den Formen kindlicher Vorstellungsweise oder als ein Reich eigener Gesetzmäßigkeit zu denken ist,» so muß darauf erwidert werden: Ich bin mit ihm ganz einverstanden, daß sich alles das, was er seinen Lesern als meine Meinung auftischt, in den Formen kindlicher Vorstellungsweise hält; doch hat das von ihm also Bezeichnete nichts mit meinen wirklichen Ansichten zu tun, sondern bezieht sich restlos auf seine eigenen Vorstellungen, die er sich, die meinigen entstellend, gebildet hat.

Wie ist es nur möglich, daß ein Gelehrter so verfährt? Ich muß, um etwas für eine Antwort auf diese Frage zu tun, den Leser für kurze Zeit in ein Gebiet führen, das diesem vielleicht nicht kurzweilig erscheinen wird, das ich aber hier betreten muß, um zu zeigen, aufweiche Art Max Dessoir die Bücher liest, über die er sich zum Kritiker aufwirft. Ich muß gegenüber den Dessoirschen Ausführungen ein wenig Philologie dem Leser vorführen.

Meine Entwickelung der menschlichen Kulturperioden in einer gewissen Zeit schildert Dessoir, wie schon erwähnt, so: «Auf die indische Kultur folgte die urpersische ... Andere Zeitabschnitte schlössen sich an. Wir stehen in der sechsten Periode.» Nun könnte es recht unbedeutend erscheinen, jemand vorzuwerfen, er lasse mich sagen: «Wir stehen in der sechsten Periode», während ich mit aller nur denkbaren Klarheit ausführe, daß wir in der fünften stehen. Aber in diesem Falle ist die Sache doch nicht unbedeutend. Denn wer in den ganzen Geist meiner diesbezüglichen Darstellung eingedrungen ist, der muß zugeben, daß jemand, dem auch nur beifällt, ich rede von der sechsten Periode als der gegenwärtigen, meine ganze Auseinandersetzung in der allergröbsten Weise mißverstanden hat. Daß ich die gegenwärtige Periode als die fünfte bezeichne, hängt ganz innerlich mit dem diesbezüglich von mir Auseinandergesetzten zusammen. - Wie kommt Dessoir zu seinem groben Mißverständnis? Man kann sich darüber eine Vorstellung bilden, wenn man meine Darstellung der Sache mit seiner «Wiedergabe » vergleicht und dabei etwas nach philologischer Methode prüfend zu Werke geht. - Da, wo ich in meiner Schilderung der Kulturperioden zu der vierten komme, die ich im achten Jahrhundert v. Chr. beginnen und etwa im vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert n. Chr. schließen lasse, sage ich das Folgende: «Im vierten, fünften und sechsten Jahrhundert n. Chr. bereitete sich in Europa ein Kulturzeitalter vor, in welchem die Gegenwart noch lebt. Es sollte das vierte, das griechisch-lateinische allmählich ablösen. Es ist das fünfte nach-atlantische Kulturzeitalter.» Meine Meinung ist demnach, daß durch die Vorgänge im vierten, fünften und sechsten Jahrhundert sich Wirkungen vorbereiteten, die zu ihrem Ausreifen noch einige Jahrhunderte brauchten, um dann im vierzehnten Jahrhundert den Übergang zum fünften Kulturzeitalter zu machen, in dem wir gegenwärtig noch leben. Die obige Stelle scheint nun Max Dessoir obenhin lesend so in den Bereich seiner Aufmerksamkeit hineingebracht zu haben, daß er die Aufeinanderfolge des vierten, fünften und sechsten Jahrhunderts mit der Aufeinanderfolge der Kulturzeitalter verwechselt hat. Wenn jemand oberflächlich liest und außerdem kein Verständnis für das Gelesene hat, so kann dergleichen geschehen.

Wie gesagt: Steiner hat mit seinen Einwänden recht. Doch was hat er davon, und was hat die Anthroposophie davon? In welchem Verhältnis steht der zeitliche, vermutlich auch gesundheits-belastende Aufwand einer solchen Polemik mit dem erhofften Ergebnis, das heißt mit einer Popularisierung der Anthroposophie?

Wer im Bann einer bestimmten Weltanschauung steht, hier der materialistischen, wird sich durch keine noch so logischen Korrekturversuche und "Widerlegungen" davon abbringen lassen. Folglich hat Dessoir in der 6. Auflage des Buches seine Anthroposophie-Kritik von 9 Seiten auf 85 Seiten erweitert. Ob er darin auf Steiners Einwände eingegangen ist, habe ich auf die Schnelle nicht ersehen können; wohl aber, daß er in seine Lektüre jetzt auch Steiners Vortragswerk einbezogen und gründlich referiert hat - und dennoch von seiner ablehnenden Haltung keineswegs abgerückt ist. Vermutlich hat gerade Steiners Selbstverteidigung ihn in seiner eigenen Haltung bestärkt. Überraschend wäre das jedenfalls nicht.

Ich unterstelle, daß jemand, der in der anthroposophische Denk- und Arbeitsweise etwas Berechtigtes sieht, sich durch verzerrende Darstellungen von einer eigenständigen Prüfung nicht wird abhalten lassen und also keine Richtigstellungen nötig hat. Im Gegenteil: Je deutlicher die ablehnende Haltung ihres Autors zur Erscheinung kommt - und im Falle Dessoirs ist sie überaus deutlich -, umso interessanter wird ihm die Sache. Wer hingegen dazu neigt, unkritisch gegnerische Haltungen zu übernehmen, der würde anderenfalls auch nicht geneigt und imstande sein, sich Anthroposophie eigenständig zu erarbeiten; er würde vielmehr zum Steinerianer werden.

Steiner wird dies gewußt haben; umso merkwürdiger erscheint mir die Mühe, die er sich macht, um den Gegner logisch ad absurdum zu führen. Ja, die Sache mit dem Dessoir hat ihn nicht losgelassen, sodaß er später, wenn auch in intimerem Kreise, als er gerade vom Teufel spricht, unvermittelt in Gehässigkeiten ausbricht (GA 176, S.325f.; Hervorhebungen durch mich):

Luther hatte aber einen vollen Umgang mit dem Teufel. Er mußte ihn kennenlernen durch die Seelenkämpfe, die man erleben muß, wenn man dem Teufel Aug' in Auge gegenübersteht. Und was er da erlebte, das faßte er in Bilder, wie man das, was man sonst erlebt, in Worte faßt. Wenn die Leute so dumm sind wie Professor Dessoir, und auch so korrupt, so konnten sie jemandem, der sich durch Worte ausspricht, vorwerfen, er glaube, in den Worten lägen die Dinge, die man aussprechen will. Genau dasselbe wirft mir Professor Dessoir vor, wo er sagt, ich leitete irgendwelche Entwickelungszustände der Menschheit aus Bildern und nicht aus Wirklichkeiten her. Man sollte nicht glauben, daß solch eine Sache überhaupt auftritt, aber sie tritt hier nicht bloß aus Uneinsicht auf, sondern auch aus Ignoranz. Besonders da, wo das zweite Kapitel meiner demnächst erscheinenden Schrift sich mit der unmöglichen, moralisch korrupten Gelehrsamkeit beschäftigt, die heute die Zeit mit sich bringt und die das furchtbare Elend der Zeit mitbewirkt, da werden Sie sehen, was für Leute heute in der offiziellen Wissenschaft herumspazieren, was aber nicht hindert, daß die Königliche Akademie der Wissenschaften, wie ich Ihnen das schon erzählt habe, den Preis erteilt hat jenem Schmachtlappen einer Geschichte der Psychologie, den Herr Dessoir auf ihr Preisausschreiben hin eingeschickt hatte, und den er dann selbst zurückgezogen hat. Untersuchen Sie einmal, was die braven Kollegen Dessoirs über die Lotterigkeit und Oberflächlichkeit dieses wissenschaftlichen Schmachtlappens einer Psychologiegeschichte vorgebracht haben, dann werden Sie einen Begriff bekommen, was dann, selbst wenn wissenschaftlich akademische Prämien vorliegen, durch die offizielle Wissenschaft spazierengehen kann.

Es liegt nahe, anzunehmen, daß die Ausbrüche einer solchen Gehässigkeit gegen anerkannte akademische Größen auch in der Nichtanerkennung wurzeln, welche Steiner durch die akademische Welt widerfahren ist. Steiner wollte ja akademischer Lehrer werden - solange, wie überhaupt Aussicht darauf bestand. Es scheint, daß die (sachlich berechtigte) Nichtanerkennung in ihm ein tiefes, lebenslanges Ressentiment veranlagt hat.

Wie verträgt sich das mit einer Haltung der Ehrfurcht, die Voraussetzung ist zur Erlangung höherer Erkenntnisse? Offenbar hat Steiner zwischen beiden Haltungen - Ehrfurcht und bitterem Ressentiment - ständig changiert. Ein gutes Beispiel hierfür findet sich im 5. Vortrag in Kristiania zum Fünften Evangelium, GA 148, wo Steiner gegen Ende, nachdem er mit dem Hinweis auf dem Verrat des Judas abgeschlossen hat, selber gewissermaßen abstürzt und polemisch wird:

Sehen Sie, wir haben heute schon gründlich genug Feinde [...] Insbesondere sind es gewisse Anhänger der sogenannten Adyar-Theosophie, welche in der schlimmsten Weise eben diesen Jesuitismus verkünden und lauter gehässiges, gewissenloses Zeug reden. Aber dabei tritt auch noch das zutage, daß von einer Stelle aus, wo man recht sehr gewütet hat gegen das Engherzige, Verkehrte, Verwerfliche, unsere Lehre bodenlos gefälscht worden ist. Es hat unsere Lehre ein Mann, der aus Amerika kam, durch viele Wochen und Monate kennengelernt, aufgeschrieben und dann in verwässerter Gestalt nach Amerika getragen und dort eine Rosenkreuzer-Theosophie herausgegeben, die er von uns übernommen hat. Er sagt zwar, daß er von uns hier manches gelernt habe, daß er aber dann erst zu den Meistern gerufen wurde und von ihnen mehr gelernt habe. Das Tiefere aber, was er aus den damals unveröffentlichten Zyklen gelernt hatte, verschwieg er als von uns gelernt. Daß so etwas in Amerika geschah - man könnte ja, wie der alte Hillel, in Sanftmut bleiben; man brauchte sich diese auch nicht nehmen lassen, wenn das auch nach Europa herüberspielt. Es wurde an der Stelle, wo man am meisten gegen uns gewütet hat, eine Übersetzung gemacht dessen, was über uns nach Amerika geliefert worden ist, und diese Übersetzung wurde eingeleitet damit, daß man sagte: Zwar träte eine rosenkreuzerische Weltanschauung auch in Europa zutage, aber in engherziger, jesuitischer Weise. Und erst in der reinen Luft Kaliforniens konnte sie weiter gedeihen.

Dieser "Mann, der aus Amerika kam", das ist Max Heindel. - Es ist klar, daß es nach einem solchen Absturz ins Unehrfürchtige nicht gleich wieder zum Aufschwung kommt; das heißt, es folgen in den Vorträgen, die davon betroffen sind, danach auch keine höheren Erkenntnisse mehr.

Im Zusammenhang mit Steiners Kritik an Dessoir sollten wir auch nicht vergessen, daß zumindest der Vorwurf der oberflächlichen Lektüre auch auf Steiner zutrifft, wenn man es da überprüft, wo es sehr gut überprüfbar ist, nämlich anhand seiner philosophischen Werke. Diesbezüglich verweise ich auf meinen Beitrag mit dem Hinweis auf das Buch von Hartmut Traub.

Abschließend möchte ich auch noch Max Dessoir über Steiner zu Wort kommen lassen, und zwar aus der späteren, erweiterten Ausgabe seines Buches. (Ich verschiebe es auf morgen.)

Die Kontroverse zwischen Steiner und Max Dessoir

Bernhard, Samstag, 23. Juli 2016, 08:45 (vor 2969 Tagen) @ Kosmogonie

Hallo, Thomas!


Ein vernünftig denkender und in der steinerschen Kosmologie bewanderte Mensch wird die Kritik Steiners gegen Dessoir vollkommen gerechtfertigt finden: Denn wer sich eine "steinersche" Kosmologie dergestalt zusammenbastelt, um sie dann auch gehörig "auseinandernehmen" zu können, kann von Grund auf nicht ernst genommen werden. (Bestes aktuelles Beispiel gleicher Manier bietet HELMUT ZANDER). Und eben solch perfides Verhalten, das typisch ist für den klassischen Wissenschaftsbetrieb, verteufelt Steiner zurecht.

Warum soll man über so krasse Verbiegungen wie in den fehlerhaften Aussagen Dessoirs - einem bestens informierten Akademiker! - zu den Kulturen/Kulturepochen und zur Nennung ihrer Abfolge verständnisvoll hinwegsehen? Das kann man nur, wenn man weniger ein Freund Dessoirs ist als vielmehr ein fanatischer Gegener Steiners und seiner Anthroposophie. -

Wer oder was ist Steiner eigentlich für Dich? - Was hat er Dir angetan, dass Du ihn als den letzten Vollidioten hinstellst? -

Wärest Du nur einigermaßen objektiv, ließest Du auch Steiner gerechtfertigte Kritik üben und nicht jedes "wenn" und "aber" von ihm als geisteskranken Amoklauf begutachten. Und würdest Du in seiner Anthroposophie das Kostbare darin suchen und finden wollen, dann würdest Du auch längst Fortschritte gemacht und neue Erkenntnisse bei Deiner kosmologischen Arbeit gefunden haben. Klar ist kritische Wachsamkeit fundamental vorauszusetzen. Aber jede einzelne Aussage des Geistesforschers, die großartige Potentiale in sich birgt, sogleich anzuzweifeln und sich daran zu verbeißen, anstatt sie phantasievoll kreativ aufzugreifen und sie lebendig zur Entwicklung zu bringen, deutet nicht gerade auf den Enthusiasmus eines Geistsuchers hin. Wenn ich vorbehaltlos, entspannt und geistoffen verstehen will, ist für meinen Geist auch ein Satz wie "Die Kartoffel ist ein gar listiges Tier!" keine Verrücktheit, weil ich seinen Ursprung in Steiners Werk gründlich erforscht habe. Und habe ich nach eigener aktiver Denkarbeit verstanden, was Steiner mit jenem Satz meint, kann ich ihn auch als unwissenschaftliche Definition als vollkommen korrekt anerkennen. Auch einen Satz wie "Der Klapperstorch bringt die kleinen Babys!" wird der Intellekt kritiklos als authentisch betrachten, nachdem er seine geistigen Hintergründe nachvollzogen hat, usw.. -

Mittlerweile habe ich keine Lust mehr, wie von mir vorgenommen meine in 30 Jahren erarbeiteten Erkenntnisse zu meinen wieder- bzw. neuentdeckten Fakten bzgl. der Qabalah und des Tarot in Deinem Forum erstmalig öffentlich preiszugeben. Nicht etwa, weil ich Kritik vermeiden will!! Sondern weil ich befürchte, dass meine Arbeit hier nicht positiv auf- und angenommen wird - namentlich vom Betreiber des Forums. Und ich wäre weitaus enttäuschter und trauriger darüber, nicht selbst verstanden zu werden als ich es hinsichtlich Deiner Verachtung Steiners und seiner Anthroposophie gegenüber bin. -

Ich habe mich daher entschlossen, von hier auszusteigen und das Geschehen im Forum aus der Ferne weiter zu beobachten.

Für Deine kosmologische Forscherarbeit wünsche ich Dir den zu erhoffenden Erfolg. Vielleicht begegnen sich unsere Wege mal wieder, und dann auf einem Niveau, auf dem es sich lohnt, mit Rudolf Steiner und seiner Anthroposophie im positiven Sinne weiterzuschreiten.


Lieben Gruß!

Bernhard

Die Kontroverse...

Kosmogonie @, Samstag, 23. Juli 2016, 13:40 (vor 2968 Tagen) @ Bernhard
bearbeitet von Kosmogonie, Samstag, 23. Juli 2016, 13:44

Hallo Bernhard!

Es gibt prinzipiell zwei Wege, eine bedeutende Persönlichkeit mißzuverstehen und ihr Werk zu leugnen:

  • ihre übertriebene Verehrung durch bedingungslose Parteinahme;
  • ihre radikale Ablehnung, ohne sich auf das Werk einzulassen.

In Worten Steiners handelt es sich um die luziferische bzw. um die ahrimanische Einstellung. Dessoir hat sich übrigens sehr wohl auf Steiners Werk eingelassen; insofern verstehe ich sein Plädoyer als bedingt konstruktiv.

An dir glaube ich die luziferische Ausprägung zu erkennen, und zwar in einem Grade, die uns nur selten zu einem konstruktiven Dialog hat kommen lassen. Einen Ansatz sehe ich am ehesten noch in deinem Beitrag über die drei Typen von Menschenaffen. Im Anschluß und bis jetzt habe ich dich fast nur über deine Abwehrhaltung wahrgenommen. Diese macht einen konstruktiven Dialog unmöglich, und einen unkonstruktiven Dialog möchte ich nicht führen. Das bedeutet allerdings nicht deinen "Rauswurf" aus dem Forum. Zu einem themenbezogenen Dialog bin ich immer und bedingungslos bereit; auf eine bloße Abwehr hingegen kann ich nicht antworten.

Natürlich bedaure ich, daß du deine Erkenntnisse zu bestimmten Themen hier nicht darstellen willst. Doch wie gesagt, ich verschließe keine Tür.

Beste Grüße!

Thomas

Die Kontroverse...

Bernhard, Samstag, 23. Juli 2016, 22:28 (vor 2968 Tagen) @ Kosmogonie
bearbeitet von Bernhard, Samstag, 23. Juli 2016, 22:38

Hallo, Thomas!

Nachdem ich nun einmal all meine Gegenreden mit den Deinigen verglichen habe, müsste ich Deine Unterstellungen mir gegenüber auf Dich selber übertragen.

Dir geht es primär um die öffentliche Diskreditierung Steiners, seiner Anhänger und seiner Anthroposophie; dafür bist Du ja nicht nur durch dieses Forum bekannt. Und schon allein dieser Vorsatz macht jede Deiner noch so "objektiven" Stellungnahmen zu Steiner wertlos.

Diesen traurigen Missstand habe ich leider erst jetzt erkannt - oder eher: erkennen wollen, da ich nach wie vor hoffte, wenigstens einen gemeinsamen gangbaren Mittelweg zu finden. Allein, jeden meiner Schritte auf Dich zu beantwortetest Du mit zwei oder drei Schritten zurück. Hätte ich diese Geduld und Hoffnung nicht gehabt - und wäre ich ein blindgehorsamer luziferisch verblendeter "Steinerianer", hätte ich mich längst vorher schon von Dir verabschiedet. Auch die Warnungen Prokofieffs - den ich sehr schätze, - vor Tomberg und seinen Anhängern hatte ich als weit übertrieben in den Wind geschlagen. - Jetzt muss ich bedauerlicherweise konstatieren, dass er wohl recht hatte.

Gruß

Bernhard

Steiners Schatten/Doppelgänger

Kosmogonie @, Donnerstag, 28. Juli 2016, 15:31 (vor 2963 Tagen) @ Bernhard
bearbeitet von Kosmogonie, Freitag, 29. Juli 2016, 02:08

Dir geht es primär um die öffentliche Diskreditierung Steiners, seiner Anhänger und seiner Anthroposophie [...]. Und schon allein dieser Vorsatz macht jede Deiner noch so "objektiven" Stellungnahmen zu Steiner wertlos.

Am letzten Satz scheiden sich unsere Geister. Wobei ich "unsere" im erweiterten Sinne verstehe: Hier scheiden sich die wahren Anthroposophen von den Steinerianern. Und weil das von allgemeinerem Interesse ist, will ich das jetzt einmal erläutern.

Man kann einem Menschen nur gerecht werden, wenn man auch seine Schattenseiten berücksichtigt. Steiner hat dies selbst erkannt und treffend beschrieben. Man kann das nachlesen in seiner Geheimwissenschaft, Seite 363 (Hervorhebungen durch mich):

Es kann zum Beispiel jemand die Erfahrung machen, daß eine von ihm oder andern verehrte Persönlichkeit diese oder jene Eigenschaft habe, die er als Charakterfehler bezeichnen muß. Durch eine solche Erfahrung kann der Mensch in einer zweifachen Richtung zum Nachdenken veranlaßt werden. Er kann sich einfach sagen: Jetzt, nachdem ich dies erkannt habe, kann ich jene Persönlichkeit nicht mehr in derselben Art verehren wie früher. Oder aber er kann sich die Frage vorlegen: Wie ist es möglich, daß die verehrte Persönlichkeit mit jenem Fehler behaftet ist? Wie muß ich mir vor­stellen, daß der Fehler nicht nur Fehler, sondern etwas durch das Leben der Persönlichkeit, vielleicht gerade durch ihre großen Eigenschaften Verursachtes ist? Ein Mensch, welcher sich diese Fragen vorlegt, wird vielleicht zu dem Ergebnis kommen, daß seine Verehrung nicht im geringsten durch das Bemerken des Fehlers zu verringern ist. Man wird durch ein solches Ergebnis jedesmal etwas gelernt haben, man wird seinem Lebensverständnis etwas beigefügt haben.

Nun wäre es gewiß schlimm für denjenigen, der sich durch das Gute einer solchen Lebensbetrachtung verleiten ließe, bei Per­sonen oder Dingen, welche seine Neigung haben, alles Mög­liche zu entschuldigen oder etwa gar zu der Gewohnheit überzugehen, alles Tadelnswerte unberücksichtigt zu lassen, weil ihm das Vorteil bringt für seine innere Entwickelung. Dies letztere ist nämlich dann nicht der Fall, wenn man durch sich selbst den Antrieb erhält, Fehler nicht bloß zu tadeln, sondern zu verstehen; sondern nur, wenn ein solches Verhalten durch den betreffenden Fall selbst gefordert wird, gleichgültig, was der Beurteiler dabei gewinnt oder verliert. Es ist durchaus richtig: Lernen kann man nicht durch die Verurteilung eines Fehlers, sondern nur durch dessen Ver­stehen. Wer aber wegen des Verständnisses durchaus das Mißfallen ausschließen wollte, der käme auch nicht weit. Auch hier kommt es nicht auf Einseitigkeit in der einen oder andern Richtung an, sondern auf Gleichmaß und Gleichge­wicht der Seelenkräfte.

Wenn ich nun das Tadelnswerte an Steiners in Verhalten und Charakter besonders betone, dann tue ich es, um dem Steinerismus ein Korrektiv zu setzen. Denn der Steinerismus ist ein echtes Hindernis für die Befruchtung unserer Kultur durch die Anthroposophie.

Ein aus meiner Sicht besonders kennzeichnendes Beispiel für Steiners Schattenseite hat Friedrich Rittelmeyer in seiner "Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner" gegeben. Ich muß es aus dem Gedächtnis reproduzieren. Rittelmeyer spricht da von der Zeit, da Steiner die Dreigliederungsbewegung zu popularisieren suchte und sich in verrauchten Kneipen mit Arbeiterführern verbale Auseinandersetzungen lieferte. Einmal, so Rittelmeyer, habe Steiner einen jungen, dialektisch unbedarften Sprecher, der "brav sein Sprüchlein vortrug", dermaßen zusammengeschrieen, daß der danach hinter die Tür ging und, offenbar im Affekt einer erlittenen Demütigung, weinte.

Aus meiner Sicht ist dieses Verhalten durch nichts zu rechtfertigen. Ein Lehrer, der einen Schüler so behandelte - mißhandelte! -, riskierte zumindest ein Disziplinarverfahren. Nun war der junge Mann wahrscheinlich schon erwachsen. Nach dem Zivilrecht war Steiners Verhalten auch nicht justiziabel; das wäre vielmehr etwa ein Faustschlag gewesen. Doch aus Sicht des Opfers ist es gleich, ob die Demütigung durch einen Faustschlag oder durch Worte vor den Kameraden erfolgte. Vor den Kameraden mußte er sich durch Steiners verbaler Kraftmeierei degradiert gefühlt haben.

Allenfalls läßt sich noch einwenden, daß sich der Vorfall mehr in einem kriegerischen als in einem pädagogischen Milieu abgespielt habe. Aber auch die Soldaten-Ehre verbietet es, den Gegner individuell zu demütigen.

Was ging da in Steiners Seele vor? Es war eine cholerische Aufwallung, die ihn jedes Maß verlieren ließ, und die bei anders erzogenen Menschen, etwa im Arbeitermilieu, nicht selten zu Tätlichkeiten führt. Daß Steiner die Folge seiner Tat inkauf genommen oder gar beabsichtigt habe, halte ich für ausgeschlossen. Denn er wollte ja überzeugen, und es ist klar, daß man durch Angriffe nicht überzeugt, sondern sich neue Gegner schafft. Zudem schafft man sich damit eine karmische Last. Vielleicht ist der tätliche Angriff auf Steiner, der zur Beendigung seiner Vortragstätigkeit in Deutschland geführt hat, auch als eine karmische Folge dieses Verhaltens zu verstehen!

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Ich habe das Beispiel gewählt, weil es einen Grundzug von Steiners Charakter "schlag(licht)artig" erhellt. Steiner war nicht nur reizbar und angriffslustig (und, was geistiges Eigentum betrifft, räuberisch); er schuf sich insofern auch Gegner, wo es unnötig, ja der Sache abträglich war. Grundsätzlich neigte er zur Überreaktion bis hin zur Maßlosigkeit. Gleichzeitig war er aber auch sehr empfindlich, das heißt, er reagierte im Fall einer empfundenen Niederlage mit lang anhaltender, zum Ende sogar sich steigernder Verbitterung. Und mehr noch: Er war unfähig zur Selbstkritik und Selbstkorrektur. Mir ist keine Stelle bekannt, wo Steiner einen Irrtum korrigiert oder einen Fehler wirklich bereut hätte. So etwas wie ein mea-culpa-Bekenntnis der Heiligen lag ihm völlig fern.

Wenn man den "Schatten" oder "Doppelgänger" bei Steiner einmal erkannt hat, dann ist man davor gefeit, Steiner zur Aufblähung des eigenen Ego zu vereinnahmen. Man muß sich sagen können: So wie Steiner war, möchte ich nicht sein - was dies betrifft. Und wohlgemerkt, jede Vereinnahmung ist eine Art von Verachtung. Nehmen wir an, der Vereinnahmte schämt sich im Kamaloka seiner Verfehlungen, dann wird ihm die Glorifizierung seiner Anhänger jedenfalls nicht hilfreich, nicht angenehm sein.

Ziehe ich inbezug auf Steiners Leistungen und Fehler die Bilanz, so weckt diese in mir Gefühle des Respekts und der Dankbarkeit. Diese sind nun ehrlich, das heißt: weder brauche ich etwas an Steiner zu beschönigen, noch muß ich in dessen Gegnern persönliche Feinde sehen. Und ich meine, daß dies genau die Haltung ist, die der Anthroposophie eine Zukunft ermöglicht.

Max Dessoir kommt zu Wort

Kosmogonie @, Samstag, 23. Juli 2016, 17:19 (vor 2968 Tagen) @ Kosmogonie
bearbeitet von Kosmogonie, Montag, 01. August 2016, 19:29

Der Anstand verlangt, daß ich, nachdem ich ein langes Zitat von Steiner gebracht habe, auch Max Dessoir zu Wort kommen lasse, und zwar, wie angekündigt, mit seiner späteren, erweiterten Darstellung der Anthroposophie. Doch scheint mir, daß längere Zitate sich in diesem Falle erübrigen. Denn Dessoir geht auf Steiners Vorwürfe nicht ein, vielleicht, weil er sie gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Auch sind seine eigenen, hier stark vermehrten Einwände gegen die Anthroposophie nicht besonders originell, weil es im Wesentlichen die gleichen Einwände sind, die von denen, welche die von Steiner behaupteten höheren Welten nicht anerkennen, immer schon vorgebracht worden sind.

Das Kapitel über mit dem Titel "III. Anthroposophische Weltanschauung" ist so untergliedert:

  • Einleitendes
  • 1. Das Weltbild der Anthroposophie
  • 2. Anthroposophisches Hellsehen
  • 3. Das Verfahren der Anthroposphie
  • 4. Anthroposophische Lehre vom Menschen

Es folgt dann noch ein IV. Kapitel: "Anthroposophische Wissenschaft", und ein V. Kapitel: "Anthroposophisches Menschentum". Alles zusammen nimmt 131 Seiten ein.

Obwohl durchwegs von Unverständnis und Ablehnung geprägt, ist der Duktus Dessoirs doch entspannter und gemäßigter als der Duktus Steiners. Nur gelegentlich tritt leichter Spott zutage. Und in so manchen seiner Kritikpunkte hat Dessoir zweifellos recht, weil eben Steiner, was für mich außer Zweifel steht, eine durchaus sehr zwiespältige Persönlichkeit gewesen ist. Seine Flüge sind grandios, seine Abstürze ins Allzumenschliche aber ebenso. Diese vertikale Spannweite, die ihresgleichen nicht findet, kann man natürlich auch als "Größe" bezeichnen.

Die Einleitung beginnt mit folgenden bemerkenswerten Sätzen (Hervorhebungen in Golddruck durch mich):

Eine Darstellung anthroposophischer Weltanschauung begegnet ungewöhnlichen Schwierigkeiten; ihre Beurteilung birgt Gefahren. Nie war ein Theologe so überzeugt von der Unangreifbarkeit seiner Dogmen, nie ein Philosoph so durchdrungen von der Notwendigkeit seines Systems, wie Rudolf Steiner von der unbedingten Wahrheit und und ausschließenden Geltung seiner Lehre. Wer ihr nicht zustimmt, beweist nach seinem Urteil damit nur geistige Unfähigkeit und sittliche Schwäche. Anthroposophische Lehren verstehen, heißt, sie billigen; anthroposophische Lehren nicht verstehen, heißt, befangen urteilen und unklar denken.

Das ist zutreffend beschrieben. - Ich übergehe die weitere Darstellung, um mich auf das Schlußkapitel ("Anthroposophisches Menschentum") zu konzentrieren. Es beginnt wie folgt:

Es ist schwer, dem Wunsche nach einem Verständnis für das Werk Rudolf Steiners Erfüllung zu schaffen und dabei die so nötige kritische Haltung zu bewahren.

Doch Dessoir bewahrt Haltung - was ihn wohltuend von Steiner unterscheidet.

Als unendlich viel schwieriger aber erweist sich der Versuch, das Wesentliche seiner Persönlichkeit zu erfassen. Von welcher Seite her sollen wir einen Zugang zu ihr finden? Steiners anthroposophische Lehre, der Niederschlag seiner geistigen Bemühungen, ist ein chaotisches Gebilde, in dem Gedanken von vielen Köpfen und aus allen Jahrhunderten durcheinanderwirbeln. Die Lehre verrät uns manches über die Weite von Steiners Denk- und Einfühlungsvermögen, läßt uns einen Blick tun in die Menge seiner mehr oder minder begründeten Kenntnisse und vermittelt den Eindruck einer ungewöhnlichen Gedächtniskraft und eines großen Arbeitsvermögens. Aber der Weg zur Lösung des Problems "Steiner" wird von ihr eher verbaut als eröffnet. Denn es fragt sich sehr, ob die intellektuelle Leistung das Entscheidende an Rudolf Steiner ist. Für das Maß seiner Wirkung war sie allein keineswegs bestimmend. Mit guten Gründen konnte immer wieder behauptet werden: der Führer der Anthroposophen sei vor allem ein Willensmensch, eine Machtnatur gewesen; sein Handeln beweise es. Doch auch von hier aus dringen wir nicht in das Innerste seines Wesens: so wenig wir eine Einheitlichkeit in Steiners Gedankenwelt festzustellen vermochten, so wenig können wir ein eindeutiges Zielstreben in seinem Tun erkennen. Wollen wir schließlich der sittlichen Persönlichkeit Steiners nahekommen durch ein Eindringen in seinen Charakter, so scheitern wir an der gleichen Vieldeutigkeit, ob wir nun von seinen Werken oder der Selbstdarstellung ausgehen, ob wir uns auf eigenen Bekanntschaft mit Steiner berufen können oder dem Urteil anderer glauben müssen.

Das charakterologische Problem spiegelt sich am deutlichsten in Steiners Wirkung auf die Zeitgenossen und in der Bewertung, die sie ihm wie seinem Werk angedeihen lassen. Nicht daß er sowohl Zustimmung wie Ablehnung fand, ist ausschlaggebend: diese Doppelheit könnte für die Entschiedenheit seiner Stellungnahme in lebenswichtigen Fragen sprechen. Doch daß die Hochschätzung seiner Person und seiner Leistung so maßlos übersteigert wird und so gänzlich urteilslos ist; daß beim Erwachen der Kritik regelmäßig ein völliges Abrücken von Steiner erfolgt; daß selbständige Köpfe ihn fast ausnahmslos ablehnen, das gibt zu denken. Diese Tatsachen haben nichts damit zu tun, daß auch geniale Menschen und ihre Leistungen verschieden beurteilt werden, denn bei derartigen Gegensätzen des Urteils handelt es sich meist um die veränderte Sehweise der einander folgenden Geschlechter oder doch um Abweichungen, die in erkennbaren und erklärbaren Grenzen bleiben. Hier hat sich vor unseren Augen etwas anderes ereignet.

Rittelmeyer, der selbst ehrlich um die Wahrheit ringt, rechnet Steiner zu den "voraneilenden Menschheitsgenien" wie Aristoteles und Augustin, spricht von einem "Hochmenschentum" [...] Es überrascht nun nicht mehr das Bekenntnis: "Nirgends, wohin ich sehe, erblicke ich ähnlich Großes und Entscheidendes", "...wenn irgend einer in der Gegenwart ein Übermensch ist, dann ist er es". [...]

Ebenso vernehmlich aber erklingen von der Gegenseite die Stimmen derer, die Steiner zu den gefährlichsten Erscheinungen der verhängnisvollen letzten Jahrzehnte rechnen [...]. [...]

Messias und Antichrist in einer Gestalt, entweder einer der Größten im Reich des Geistes und einer der Reinsten in der Welt des Ethos, - oder ein Verderbenschaffender und Irreleitender, ein charakterloser Lump, so sieht Rudolf Steiner aus im Urteil seiner Zeitgenossen, im Urteil von Menschen, die ihn Auge in Auge gesehen, Rede und Gegenrede mit ihm getauscht, ihn aus Wort und Schrift kennen gelernt haben. Wie soll man aus dieser Wirrnis zur Klarheit kommen? Mit seiner Lebensbeschreibung hat Steiner es uns leicht und schwer zugleich gemacht. Denn diese Lebensgeschichte ist wohl mit subjektiver Ehrlichkeit geschrieben, aber man wird das Gefühl nicht los, daß Steiner viel in seine frühen Jahre hineinlegt, was nicht vorhanden war, daß auch er - kein Selbstbiograph wird dieser Gefahr gänzlich entrinnen - aus der Kenntnis des Gewordenen das Werdende aus- und umdeutet. Unverkennbar sind die Erlebnisse seiner Jugendzeit von Steiner - möglicherweise unbewußt - stark umgedeutet worden. [...]

Steiner ist mit der stilisierten Darstellung seiner Entwicklung nicht durchgedrungen. Heute wissen noch zu viele von der Zeit, in der der spätere Anthroposophen-Führer sich arg respektlos über alles Geistige zu äußern pflegte. "Es gab nichts im Himmel und auf Erden, was dieser Naturwissenschaftler nicht lachend gelästert hätte." (Max Osborn in der Vossischen Zeitung vom 1. April 1925.)

Mit Alledem erzählt uns Dessoir nichts eigentlich Neues. Ich habe es zitiert, um einen Eindruck seines Bemühens um Ausgewogenheit zu vermitteln. - Die Einschätzung Steiners als "Lump" findet sich übrigens auch in den Aufzeichnungen der von Steiner (einseitig?) hoch geschätzten Rosa Mayreder. Sie schreibt im Rückblick, daß sie mit Steiner nur Niedriges und Gemeines erlebt habe. Auch Steiners Angaben in seinem "Lebensgang" widerspricht sie heftig.

Abschließend will ich nur noch wiedergeben, was Dessoir über Steiner Sprache sagt. Nachdem er einige für Steiner bezeichnende Sätze zitiert hat (die ich noch nicht einmal für die schlimmsten halte), ruft er aus:

Welche Verschwommenheit und Verwaschenheit im Ausdruck, welche Blässe des Gedankeninhalts! Nirgends ist Steiner eine Wendung geglückt, die sich einprägt; es gibt in seinen Schriften keine einzige Seite, an der man als Leser Freude haben kann. Unübersichtlich sind seine Sätze, durch Einschachtelungen gedehnt. Ein Wust von Füllseln ballt sich zusammen und wird endlos wieder ausgewalzt. Dieses leere Gerede, vorgebracht in einem Jammerdeutsch, peingt und quält; noch nie hat ein Mensch mit geistigem Anspruch so arg in der Mitteilung versagt. [...]

Steiners stilistische Unfähigkeit ist nicht nur von mir bemerkt worden. "Wer Anspruch auf geistige Reife oder gar Führerschaft erhebt, muß vor der Sprache unbedingt bestehen können", sagt Ernst Michel, und er erklärt inbezug auf Steiner: "es fehlt ihm überhaupt jedes persönliche Verhältnis zur Sprache. Von einem Sprachstil kann bei ihm nicht die Rede sein." Ein anderer Beurteiler ruft aus: "Nun Steiner: welcher geistige Mensch hätte je, seit es eine deutsche Sprache gibt, ein so grauenhaftes Deutsch geschrieben oder gesprochen?" Steiners Jünger hingegen nehmen für diesen offenkundigen Mangel - soweit sie ihn überhaupt empfinden - die eigene Begründung des Meisters als ausreichend an. "Das Umständliche und Weitschweifige, das Dr. Steiner oft in seiner Satzbildung hatte", so bemerkt Rittelmeyer (Meine Lebensbegegnung S.26), erklärte sich, wie ich einem Gespräch entnahm, ...aus der Rücksicht auf die Beschaffenheit seiner Hörer."

Waren also seine Hörer so blöd, daß sie ein anständiges Deutsch nicht verstanden hätten? Nun, es wäre doch verwunderlich, wenn Steiner in seinem außerordentlichen Selbstbehauptungswillen seine Sprachschwäche nicht wiederum seinen Kritikern zugeschrieben hätte.

Und damit sei es genug.

Wer einwendet, daß ich mit der teilweisen Wiedergabe von Dessoirs Steiner-Kritik (die ich mir mehr oder minder übrigens zueigen mache) allzu destruktiv vorgegangen sei, dem halte ich entgegen, daß es für mich etwas Befreiendes hat, der unter Anthroposophen verbreiteten luziferischen Steiner-Verherrlichung ab und zu ein Gegengewicht setzen zu können. Denn sowohl die Verherrlichung wie auch die völlige Ablehnung, sie beide vernebeln, jeweils für sich genommen, den Blick. Nur der mittlere Weg, so glaube ich, ermöglicht ein Durchkommen zum Wesentlichen.

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