Zu Otto Jachmann: "Denken wird Wahrnehmung. Zur Philosophie von Brentano, Husserl, Heidegger und Derrida, und die Anthroposophie"
Dieses Buch ist ganz unakademisch, vielmehr sehr lebendig und, soweit es bei diesem Thema möglich ist, spannend geschrieben. So jedenfalls empfand ich die Lektüre.
Von den genannten Philosophen habe ich Brentano und Derrida bisher gar nicht, Heidegger vor sehr langer Zeit gelesen. Umso mehr interessierte mich das Kapitel über Husserl. Es beginnt mit Auszügen aus einem psychologisch sehr einfühlsamen und stilistisch glänzenden Artikel Husserls über seinen Lehrer Brentano. Husserls Philosophie selbst kommt vor Allem in längeren Zitaten zu Wort. Sie lassen die unendlich mühevolle Arbeit erkennen, die Husserl sich auferlegt und über Jahrzehnte geleistet hat, und deren geistiger Nachvollzug auch dem Leser unendliche Geduld abverlangt. Wie der Autor vermerkt: "Die Lektüre seiner von Einzelerwägungen überquellenden Werke ist nicht eben leicht."
Eine Bemerkung von Jachmann weckte in mir die gefühlsgesättigte Erinnerung an meine frühere Husserl-Lektüre. Sie lautet:
Übrigens hat auch Karl Jaspers in einem autobiografischen Text (welchen, weiß ich nicht mehr) einmal sein Unverständnis und seine Enttäuschung über die phänomenologische Methode geäußert, ja Husserl selbst als einen Spießer charakterisiert und demgegenüber Heidegger als eine faszinierende Persönlichkeit abgehoben.
Der letzte Abschnitt in Jachmanns Kapitel über Husserl ist überschrieben mit "Ohnmächtige Allwissenschaft". Ich zitiere daraus:
Sodann bemängelt Jachmann, daß Husserl den letzten Schritt zum Erleben geistiger Wesen in der übersinnlichen Welt nicht vollzogen habe. Schuld daran sei seine Geistesart als strenger Denker und Mathematiker. Daher:
Und dennoch:
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Die Darlegungen Jachmanns zu den anderen drei Philosophen will ich nicht im Einzelnen referieren, obwohl sie mindestens ebenso interessant sind. (Husserl war ein eher unauffälliger Mensch, der als Persönlichkeit hinter seinem Werk verschwand. Für die Anderen galt das weniger.) Für wesentlich erachte ich vielmehr die zusammenfassende Charakteristik inbezug auf die Wende zur Geisterkenntnis:
Die folgenden Beurteilungen gebe ich - abweichend vom Originaltext - als Liste wieder:
- Brentano konnte sich nicht vom Ideal einer falsch verstandenen naturwissenschaftlichen Methode für seine philosophisch-psychologische Forschung lösen.
- Husserl gelangte bis zu einer gedanklich-geistigen Wesensschau und scheiterte schließlich an seiner abstrakt-mathematischen Vorstellungsweise.
- Heidegger kam bei seiner Suche nach dem Sein mit einem neuen, wesenhaften Denken bis unmittelbar vor eine Geistesschau, erreicht sie aber nicht, weil sein Vorurteil, bildhafte Vorstellungen seien an die Sinneswelt gebunden, ihn davon abhielt.
- Derrida schließlich war ein Grenzgänger zwischen physisch-sinnlicher und geistiger Welt und hätte echte Geisterkenntnis erringen können, wenn er innerlich zur Ruhe gekommen wäre; sein nimmermüdes diskursives Philosophieren hinderte ihn daran.
Allerdings, so füge ich hinzu: Auch Steiner kam in seiner "Philosophie der Freiheit" nicht über die Schwelle hinaus. Und wir dürfen uns fragen, ob er das je getan hätte, wenn ihm sein Wunsch erfüllt worden wäre, Dozent oder Professor der Philosophie zu werden. Hartmut Traub bezweifelt das, wie bereits erwähnt. Auch ich halte, genau wie Traub, die Annahme für unbegründet, daß Steiner zur Zeit der Abfassung seiner "Philosophie der Freiheit" eine Geistesforschung im späteren Sinne hätte entwickeln können. Als Philosoph, als den Steiner sich damals verstand, kommt man eben nicht weiter als bis zu Gedankenerlebnissen.
Immerhin ist das Studium einer derartigen Philosophie - also einer solchen, die bis vor die Grenze geht - für die Vorbereitung zur Erlangung höherer Erkenntnisse von großem Wert, was Steiner auch betont. Muß es nun aber gerade die "Philosophie der Freiheit" sein? Ist sie "besser" als die Philosophien der anderen drei?
Ich glaube: Nein! Steiner hat sich nicht allzu lange nur mit Philosophie befaßt. Sein angebliches Hauptwerk ist im Schnelldurchgang geschrieben und entsprechend unvollkommen, fehlerhaft, und vermittelt seiner überbordenden Abgrenzungs-Polemik wegen zudem ein sehr schiefes Bild der Philosophie-Geschichte. Zum Erüben scharfen, sachgemäßen Denkens dürfte es vergleichsweise am wenigsten geeignet sein. Wer unter Philosophen mitreden will, kommt mit Steiner nicht aus. Vielleicht war es für uns daher ein Glücksfall, daß Steiners Karriere-Wunsch nicht in Erfüllung ging.
Ist denn nun, sub specie aeternitatis, Steiner als Individualität den anderen drei Philosophen voraus? Auch das ist nicht zwingend anzunehmen. So wissen wir, daß Mädchen früher in die Pubertät kommen als Jungen und dann erwachsener wirken sowie bessere schulische Leistungen zeigen; später aber werden sie von den Jungen doch wieder überholt, denn "was lang währt, wird gut". Schimpansenkinder kommen sogar noch früher in die Pubertät, und schließen ihren Reifeweg folglich noch vorzeitiger ab. Zumindest denkbar ist also, daß die genannten Philosophen im jeweils nächsten Leben eine viel solidere Anthroposophie vorlegen werden, als wir sie jetzt vorliegen haben.
Denn Steiner hat nicht nur, wie erwähnt, im Schnellgang seine "Philosophie der Freiheit" geschrieben; er hat auch seine (vermutlich) "höheren" Erkenntnisse, sobald er reif für sie war, in einem unglaublichen Folgetempo vorgetragen, fast so, als würde er gejagt. Das Ergebnis ist schwer überschaubar, weil oft zusammenhanglos, unsystematisch, im Einzelnen unbegründet. Aber was will man von einem Einzelnen angesichts einer solchen Leistung mehr erwarten?
"Wer immer strebend sich bemüht..." Also streben wir danach, das Unvollkommene zu vervollkommnen und es irgendwann einmal besser zu machen!