Notwendiger Zusatz: Vom Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik

Kosmogonie @, Mittwoch, 20. Juli 2016, 13:28 (vor 2971 Tagen) @ Kosmogonie
bearbeitet von Kosmogonie, Sonntag, 30. April 2017, 06:50

Anthroposophie ist ihrem Selbstverständnis nach Wissenschaft oder wissenschaftliche Forschung. Zwar ist der hier angewandte Wissenschaftsbegriff höchst eigenartig, also problematisch, und wäre gesondert zu thematisieren. Das ändert aber nichts am Anspruch als solchen.

Die Einstellung vieler Anthroposophen und - erklärter wie auch nicht erklärter - Steiner-Apologeten ist jedoch viel mehr eine politische. In der Politik geht es um Ausübung von Macht, idealerweise legitimer Macht. Sie vollzieht sich in hierarchischer Ordnung; das heißt, daß das letzte Wort, sei es in der Regierung oder in einer Partei, einer Führungspersönlichkeit zukommt. Für den Anhänger einer solchen Persönlichkeit ist jede öffentliche Kritik inopportun, denn mit die Schwächung der Position des Führers schwächt er auch seine eigene Position. Er muß sich mit der Politik, der er sich zuordnet, "identifizieren", anders gesagt, Loyalität üben.

Das ist in der Wissenschaft anders. Die Wissenschaft lebt von Fortschritt. Fortschritt heißt hier nicht nur Wissens-Zuwachs, sondern mindestens ebenso ständige Hinterfragung der Grundlagen oder Paradigmen. Von manchen ihrer Vertreter ist nicht einmal die Verifizierung, also die Bestätigung wissenschaftlicher Thesen die wichtigste Aufgabe, sondern, umgekehrt, die Falsifizierung: eine These darf nur so lange als wahr gelten, wie sie nicht als falsch herausgestellt worden ist. Fortschritt beruht hier also auf einer kritischen Einstellung, denn jede falsifizierte These ist der Motor für neues Nachdenken. Kein wahrer Wissenschaftler wird Loyalität erwarten oder ausüben.

Es folgt daraus, daß eine in politischer Einstellung betriebene Anthroposophie ihrem Wesen und ihrer Zielsetzung nicht gerecht wird, ja ihre Zukunft untergräbt. Wer von der politischen Einstellung nicht lassen kann, sollte sich besser in der wahren Politik betätigen.

Wohlgemerkt, Politik ist nichts an sich Verwerfliches. Es liegt in ihrer Natur und Bestimmung, daß nach der Wahrheit nicht geforscht, ja daß Wahrheiten unter Umständen und für eine gewisse Zeit auch der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Allein das harmonische Miteinander innerhalb der Gesellschaft und die Sicherheit der Staatsbürger ist Aufgabe politischer Betätigung.

Wer also an Steiner-Kritik Anstoß nimmt, sollte sich fragen, welche der beiden Einstellungen ihm näher liegt. Er sollte sich auch nicht irritieren lassen durch die bedauerliche Tatsache, daß Steiner selbst nicht leicht einer der beiden Einstellungen zuzuordnen ist. Ein Satz wie etwa

In dieser Beziehung hat der Kantianismus, der sich in alles eingefressen hat, die furchtbarsten Verheerungen angerichtet[,]

zu finden gegen Ende des 5. Vortrages der "Allgemeinen Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik", ist in höchstem Grade politisch, und zudem auch noch in höchstem Grade destruktiv. Denn hier (und nicht nur hier!) wird der bedeutendste deutsche Philosoph, und damit einer der größten Philosophen überhaupt, als Begründer einer Fehlhaltung dargestellt, die, was ihr Zerstörungspotential betrifft, eher der nationalsozialistischen Bewegung zuzuschreiben ist. Denn man könnte - mit einer wirklichen Berechtigung - für eine bestimmte Zeit der deutschen Geschichte ja auch sagen:

...hat der Hitlerismus, der sich in alles eingefressen hat, die furchtbarsten Verheerungen angerichtet.

Was wollte Steiner damit erreichen? Gewiß wollte er nicht erreichen, daß Kant gelesen und seine "Kritik der reinen Vernunft" einer Prüfung unterzogen werde. Dieser Aufgabe ist er ja selbst nicht ausreichend nachgekommen, so daß sein Doktorvater ihn ermahnen mußte, sich gewisse Passagen bei Kant noch einmal vorzunehmen, um seiner Kant-Kritik ein gewisses Fundament zu geben. Was Steiner vielmehr erreichen wollte und auch erreicht hat, ist, daß Kant unter Anthroposophen als überholt, nicht mehr lesenswert betrachtet, ja geradezu verteufelt wird. Mangels Kant-Lektüre wird dann auch übersehen, daß Steiner in mancherlei Hinsicht selber Kantianer gewesen ist, und daß er die Ablehnung, über die er sich beklagte, zum wesentlichen Teil - und unnötigerweise - selbst verursacht hat.

Wir sollten der Anthroposophie eine neue Chance geben. Und das geht, meiner Meinung nach, nicht ohne eine "Kritik der reinen Anthroposophie", d.h. im Wesentlichen der Steinerschen Kosmologie. Wem dies zusagt, der wird sich in diesem Forum sinnvoll betätigen können.


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